MITTELSCHICHT
Marc Beise macht sich zum Anwalt abstiegsbedrohter Leistungsträger
Die Ängste und Sorgen der Mittelschicht sind ein Trend-Thema. Nun hat der Wirtschaftsjournalist Marc Beise eine Streitschrift vorgelegt, deren Titel provozierender kaum sein könnte. Dass die Ausplünderungsthese beim Leser ein "vorauseilendes Kopfnicken" auslösen soll, mag man als Marketingstrategie abtun. Doch hält der Inhalt, was der Titel verspricht? Nein, denn Beise hätte sein Buch auch betiteln können wie einen bekannten Roman-Bestseller: "Es geht uns gut."
Ein Ärgernis ist gleich der Einstieg: In Stammtisch-Manier biedert sich der Autor bei seinem Mittelschicht-Leser an. Der droht an der verbalen Umarmung fast zu ersticken: Wir haben Jobs, wir arbeiten viel, wir wohnen gut, wir haben ein geräumiges Auto, wir fahren in Urlaub. Aber: "Was wir haben, das schmilzt uns in Zeiten der Finanzkrise dahin. Die Aktiendepots, die Standmitteilungen der Lebensversicherungen - das alles ist nicht geeignet, uns zu beruhigen. Wir sind und bleiben die Helden der schwarzen Null am Monatsende."
Die "Helden der schwarzen Null" mit ihren Aktiendepots erinnern sich wehmütig an die Jahrzehnte vor der Globalisierung, als es mehr oder weniger nur bergauf ging. Seither erleben sie, dass immer wohlhabender zu werden kein Naturgesetz ist. Und wer ist schuld daran? Der Staat, sagt Beise. Weil er keine Politik für die Mittelschicht macht, sondern nur die Superreichen entlastet und sich um Hartz-IV-Empfänger kümmert. Der Mittelschicht hat er dagegen Steuervergünstigungen wie die Eigenheimzulage und die Absetzbarkeit des Arbeitszimmers gestrichen.
Statistisch gehört zur Mittelschicht, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient. Diese Gruppe machte in den 1970er-Jahren noch 64 Prozent der Bevölkerung aus, 2007 waren es nur noch 54 Prozent. 14 Prozent gelten als armutsgefährdet. Beise greift diesen von der Wissenschaft bestätigten Trend auf, dass die Mitte der Gesellschaft etwas schmaler geworden ist. Er beschränkt sich aber nicht auf die Analyse, sondern macht sich zum Anwalt der vorgeblich Ausgeplünderten, die mit ihren Steuern und Abgaben diesen Staat tragen.
Den Leser lässt Beise allerdings seltsam ratlos zurück. Denn Diagnose und Therapie passen nicht zueinander. Der Autor hat im Grunde zwei Bücher in einem geschrieben, deren Thesen nicht harmonieren. Das eine leitet sich vom Buchtitel ab und erschöpft sich im Lamentieren über Wohlstandsverluste und Abstiegsängste. Wobei Beise, um naheliegenden Einwänden zuvorzukommen, immer wieder einfließen lässt, dass es "uns ja doch vergleichsweise gut geht". Der Volksmund nennt so etwas "Jammern auf hohem Niveau". Weniger hoch ist das Niveau, auf dem der Autor seine Botschaft vermittelt: vereinnahmende, populistische Ansprache des Lesers, Banalitäten und Allgemeinplätze, unbewiesene Behauptungen, widersprüchliche Argumentation. So schreibt Beise etwa: "Es ist ja auch viel einfacher, den Wohlhabenderen noch ein bisschen mehr abzunehmen, als die gigantische Umverteilungsmaschine neu zu justieren." Als könnte die Neujustierung der Umverteilungsmaschine nicht gerade darin bestehen, den Wohlhabenderen ein bisschen mehr abzunehmen.
Doch selbst wenn man der Ausplünderungsthese zustimmt, was wäre zu tun? Beises "zweites Buch" ist ein ordnungspolitisches Plädoyer für den Neoliberalismus, der für ihn kein Marktradikalismus ist, sondern die Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards. Ein starker Staat, der klare Regeln aufstellt, sich ansonsten aber aus der Wirtschaft heraushält. Für den Autor ist der Freiheitsstaat nach dem Wirtschaftswunder zum Wohlfahrtsstaat "degeneriert", in dem die "öffentliche Regelungswut" nahezu jeden Bereich menschlichen Lebens erfasst. Beise spricht vom "Raubzug" des Staates, von seiner "Überwachungswut", von "Bespitzelung" der Bürger. Ist es aber nicht so, dass der Staat vielfach nur regulierend eingegriffen hat, nachdem eine Selbstregulierung durch die Wirtschaft gescheitert ist? Und werden die Regelungswünsche nicht von den Lobbyisten in die Ministerien hineingetragen? Doch mit solchen Fragen hält Beise sich nicht auf. Es ist einfacher, sich an Stereotypen zu klammern.
Beise bürstet mit seiner Forderung nach mehr Markt und weniger Staat bewusst gegen den Strich, denn in Zeiten der Bankenrettung wird häufig das Ende des Neoliberalismus und die Renaissance des aktiven Staates verkündet. Als Kronzeugen zitiert er gern den Präsidenten des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, den Verfassungsrechtler Paul Kirchhof und Bundespräsident Horst Köhler.
Doch wenn die freiheitliche Gesellschaft mit einer Wirtschaftsordnung, die auf mehr Eigenverantwortung und weniger Staat setzt, das Ziel ist - was bedeutet das für die Mittelschicht? Dass es dann wieder wie zu Erhards Zeiten immer nur bergauf geht? Zur freiheitlichen Gesellschaft gehört auch, dass individuelles Scheitern und sozialer Abstieg möglich sind. Der Autor fordert ausdrücklich weniger Vollkaskomentalität und mehr Risikobereitschaft. Damit sind wir beim Beiseschen Mittelschichtparadox angekommen. Um das Abschmelzen der Mittelschicht zu stoppen und umzukehren, müsste der Staat tätig werden und Sicherungen einbauen. Das aber steht im Widerspruch zum klaren Plädoyer für den Neoliberalismus. Daher die Empfehlung: Sinn- und Kirchhof-Bücher sowie Köhler-Reden doch besser im Original lesen!
Die Ausplünderung der Mittelschicht. Alternativen zur aktuellen Politik.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009; 222 S., 19,95 ¤