Gesellschaft
Leben mit Hartz IV - Porträts aus der Unterschicht
Nahezu sieben Millionen Menschen in Deutschland leben von Hartz IV. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hatte ein ambitioniertes Ziel: Mehr Menschen zurück in Arbeit zu bringen und so die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Fördern und fordern hieß die Devise. Drei Journalisten beobachten seit Einführung der neuen Sozialgesetze, wie es eigentlich denen damit geht, die das neue Geld erhalten. Immer wieder haben Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt seit 2005 Menschen in Deutschland besucht; viele Fernsehproduktionen vor allem für den Westdeutschen Rundfunk sind so entstanden. Nun gibt es auch ein Buch.
Bereits der Titel spricht eine deutliche Sprache. "Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht." Für den Begriff haben die Autoren sich aus einem ganz einfachen Grund entschieden: Die meisten Menschen, die sie gesprochen haben, bezeichnen sich selber so. "Wir sind ganz unten", so sagt es nicht nur eine junge Mutter aus Wattenscheid, die Julia Friedrichs über Jahre immer wieder besucht hat.
Durch die Nähe, die die Porträtierten zugelassen haben und die von den Autoren auf den Leser übertragen wird, entsteht ein eindringliches Bild aus dem Alltag von Menschen, deren Leben von wenig Geld und wenig Aussicht auf Verbesserung bestimmt ist. Bei der Wattenscheider Familie zum Beispiel wird die elf Monate alte Tochter in Ermangelung eines Kinderstuhls in einem Kindersitz fürs Auto auf dem Sofa festgeschnallt und dort gefüttert. Ein Auto hat die Familie nicht, Busse und Bahnen nutzt sie aber auch nicht - bei 1.129 Euro plus Miete sind die 2,20 Euro pro Ticket nicht drin. Auch so reicht das Geld hinten und vorne nicht - lange vor Monatsende ist regelmäßig Ebbe im Portemonnaie. In einem der Monate, in denen Julia Friedrichs zu Gast war, sind am 24., also acht Tage vor der nächsten Überweisung, noch sieben Euro darin. Die Webers müssen zum Amt: "Auf keinen Fall soll es wieder soweit kommen wie vor ein paar Wochen, auch da war das Geld weit vor Ende des Monats verbraucht. Sie gingen nicht zum Amt, sondern blieben einfach in der Wohnung. Dann gingen die Windeln für Janina aus", sagt Jessica. Also geht der Leser mit der Autorin und der Familie aufs Amt und wird Zeuge eines mehrstündigen Verfahrens, an dessen Ende die Familie eine Menge Würde verloren und einen 50 Euro-Gutschein zum Einlösen bei einem Discounter bekommen hat.
Die Unmittelbarkeit der Begegnungen ist wohl das größte Verdienst des Buchs: Die Autoren lassen Menschen zu Wort kommen, über die sehr häufig und mit denen sehr selten geredet wird. So verleihen sie auch jenen einmal eine Stimme, die sonst nicht mehr als eine Ziffer in der Statistik bilden. Dazu gehören Familien, die bereits in zweiter Generation von staatlicher Hilfe leben und sich dennoch nichts mehr wünschen als ihren Kindern bessere Chancen mit auf den Weg geben zu können. Zeitarbeiter und Niedrig-löhner, deren Entgelt schlicht nicht zum Leben reicht. Förderschüler, die in ihrer Schule das Schulfach "Hartz IV" belegen, weil das wohl das ist, was sie in Zukunft bekommen werden. Aber auch Mittelständler, die durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in die Unterschicht abgewandert sind - mit geringen Chancen, sie wieder zu verlassen.
Auch diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk: Selbst Menschen, die sich enorm anstrengen, konnten sich über die Jahre aus ihrem Leben in Abhängigkeit staatlicher Gelder aus eigener Kraft nicht befreien. Die in Aussicht gestellte Verbesserung durch die Sozialreformen sei bei den allermeisten nicht eingetroffen, konstatieren die drei Autoren. Lediglich zwei der Porträtierten gelang es, einen Weg in eine halbwegs anständig bezahlte Arbeit zu finden. Die eine hat dank einer Fernsehreportage über sie eine Lehrstelle in Süddeutschland bekommen. Die andere ist nach Österreich ausgewandert.
Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009, 208 Seiten, 14,95 ¤