Feine Unterschiede
Über Ikea und bürgerliche Verhaltenscodes
Kevin geht gar nicht! Wer Kevin heißt, der heißt wie der Abstieg. Der Berliner Satiriker Wiglaf Droste hat es schon immer gewusst: "Kevin heißen müssen bedeutet: Dich liebt keiner", schrieb er vor einigen Jahren in einer Kolumne für eine Tageszeitung. Nun hat Wiglaf Droste damals nicht gesagt, was es heißen mag, Wiglaf Droste zu heißen. Sicher aber ist, dass es Besseres heißt. Wiglaf, das klingt schließlich weltoffen und ausgefallen. Nicht mal ein Beistelltisch bei Ikea würde einen solch exzentrischen Namen bekommen. Ikea-Tische heißen Benno oder Karljohan. Und gehen tun sie übrigens auch nicht. Ikea geht gar nicht! Zumindest nicht mehr seitdem das schwedische Möbelhaus zum Einrichter von Herrn und Frau Jedermann geworden ist. Seither geht Ikea eben so wenig wie ein Kind namens Kevin oder ein Sommerurlaub in der Provinz. Im Sommer nämlich muss es Provence heißen - ein Wort, das zwar das Gleiche meint, das aber wenigstens französisch ist. Und Französisch, das geht! Besser wäre es also, ein Kind hieße Lucie oder Louis. Kevin aber - auf gar keinen Fall!
In Deutschland trägt man eben noch immer den Namen seiner sozialen Verortung. Und auch Urlaub macht man hier nach Klassenlage. Aufstiegsorientierte Milieus fliegen bis nach Australien; für den Rest gibt es Bettenburgen von Bochum bis Bodrum. Je mehr die Mittelschicht in den vergangenen Jahren in Bedrängnis geraten ist, je mehr scheint sie wieder darauf bedacht zu sein, kleine kulturelle Differenzen herauszukehren: Die sozialen Gräben machen sich etwa an den Fragen von Schrankwand oder Loftwohnung, Sitzecke oder Starck-Sessel fest. Wohnen, das ist eben seit je ein Arrangement mit den ästhetischen Zwängen seines Milieus. Da mag das Konto längst schon am Limit sein, Hauptsache, man hat sich abgegrenzt.
Der nämlich war schon nach Meinung Pierre Bourdieus die alles entscheidende Waffe im Kampf um gesellschaftliche Positionierung. In seinem 1979 erschienenem Hauptwerk La distinction, zeigte sich der große Soziologe zutiefst davon überzeugt, dass zu jeder sozialen Lage immer auch ein passender Habitus im Angebot sei. Bis heute mag dieser zwar nicht für jeden auf den ersten Blick erkennbar sein, ja nach Peergroup aber ist er der alles entscheidende Türöffner.
Worum es geht, sind die wirklich feinen Unterschiede. Und die sind zuweilen feiner als Feinripp. Mag es der Discounter-Kunde nicht verstehen: Es geht um Stil und nicht um Outfit. Um Perlmutt- anstatt um Plastikknöpfe, um doppelfädige Vollzwirngewebe und um handgepflückte Baumwolle. All das nämlich, es manifestiert die festen Grenzen innerhalb gehobener Milieus. So zumindest die Meinung Pierre Bourdieus.
Apropos Bourdieu: Der geht eigentlich auch nicht. Für mittelständische Geschmacksdiskurse nämlich steht der vor sieben Jahren verstorbene Soziologe heute viel zu weit links. Eine zeitgemäße Stilkunde ist längst zur vornehmlichen Spielwiese neuer konservativer Eliten geworden.
Sekundiert von Buchautoren wie Wolfram Weimer oder Prinz Asfa-Wossen feiert man in zahlreichen Mittelstandsmilieus längst eine zumindest gefühlte Renaissance bürgerlicher Kulturmuster. Was indes genau unter diesen neuen bürgerlichen Lebenswelten zu verstehen ist, das ist nicht en detail definiert. Bis dato reichen die zahlreichen Vorschläge von neuer Freude am klassischen Kirchgang (Bemerkt unter anderem im ehemaligen Berliner Szene-Bezirk Prenzlauer Berg) über die Rückkehr von Knigge und Kopfnote, bis zur Re-Okkupation der bürgerlichen Küche.
Nicht gemeint sein dürfte indes jene stille Noblesse einer "Bürgerlichkeit als Lebensform", welche der Publizist Joachim Fest noch kurz vor seinem Tod in späten Essays überliefert hat - eine "Daseinspraxis mit diskreten Tugenden". Diese nämlich dürfte längst so rar geworden sein, wie der klassische Citoyen selbst. Denn der "neue" Bürger, er ist den meisten Fällen nur ein performatives Rollenangebot für die urbanen Bühnen von Schwabing bis zum Prenzlauer Berg. Ein gehobener Verbraucher-Typus, der sich gegen die Angebote der faden Massenkultur abzugrenzen versucht. Die bürgerliche Gesellschaft, meinte einst Manfred Hettling, sei eine selbstreflexive Kulturform gewesen. Und vom Potential, da steht der "neue" Bürger dem alten hier in nichts nach. Immerhin besuchte er die besseren Bildungsanstalten, hatte die viermal höhere Chance fürs Gymnasium empfohlen zu werden und bekam notfalls auch mal Nachhilfe finanziert. Reflexion und Erkenntnis müssten also möglich sein. Im Ernstfall wird sie aber dann doch nur dafür genutzt, um die großen Fragen von Biomarkt- oder Discounter-Waren zu erörtern. Das ganze bourgeoise Gehabe, es ist eben kaum mehr als ein saloppes Styling.
Doch genau darum geht es: Um Rituale gegen die Abstiegsangst; um ästhetische Abgrenzung nach ganz unten. Spätestens seitdem der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann in seinem Buch Elitesoziologie verdeutlicht hat, wie sehr Aufstieg und Abstieg hierzulande abhängig sind von korrespondierendem Habitus und bürgerlichen Verhaltenscodes, ist dem bedrohten Mittelstand klar geworden, worauf es in diesen bitteren Zeiten wirklich ankommt. Denn je winziger die Ställe werden, um so wichtiger wird der Stallgeruch. Und der riecht eben nicht nach Davidoff Cool Water, sondern nach einem feinen französischen Eau de Parfum. Während Lucie und Louis also schon mal den Sekt kalt stellen können, wird Kevin nicht mal Selters nuckeln. Lediglich klebrige Limo prägt seinen Geschmack von den Zuckerseiten des Lebens. Na dann: Prost! Ein Toast auf die alten Illusionen und den Traum von der sozialen Gleichheit!