ANTIDUMPINGKLAGEN
Deutsche Hütten wehren sich gegen Billigimporte aus China. Der Stahl-Boom hält unvermindert an.
Wenn der Drache erwacht, erzittert die Welt." So sprach einst Napoleon über China. Wirtschaftlich ist das Land schon lange hellwach und wirbelt mit einem gewaltigen Boom die Weltwirtschaft durcheinander. China ist bereits die drittgrößte Exportnation vor Japan und könnte über kurz oder lang Deutschland den Rang als Exportweltmeister streitig machen. Über 14 Prozent aller Einfuhren der Europäischen Union vom T-Shirt über Werkzeuge bis zu Autoteilen kamen im vergangenen Jahr aus dem Reich der Mitte. China ist zur Werkbank für die Welt geworden, und alles schielt auf den Drachen.
Besonders die europäische Stahlindustrie. Seit zehn Jahren kochen die Chinesen den meisten Stahl in der Welt. 1997 löste das Reich der Mitte mit damals 101 Millionen Tonnen Japan als größten Stahlerzeuger ab. Um die Jahrtausendwende produzierte das Land noch 152 Millionen Tonnen Stahl, 2005 waren es mit rund 348 Millionen Tonnen bereits mehr als doppelt so viel. Im vergangenen Jahr schnellte die Produktion um über 18 Prozent auf knapp 419 Millionen Tonnen hoch. China hatte damit zuletzt einen Anteil von 34 Prozent an der weltweiten Stahlerzeugung. Allein der jährliche Zuwachs war mit über 60 Millionen Tonnen deutlich höher als die gesamte deutsche Rohstahlproduktion von gut 47 Millionen Tonnen.
Das Land hat 2003 noch fast 35 Millionen Tonnen Stahl eingeführt, im vergangenen Jahr aber bereits 33 Millionen Tonnen exportiert, 17 Prozent davon in die EU. Für 2007 wird ein Ausfuhrvolumen von min- destens 50 Millionen Tonnen erwartet. Chinas rasant wachsende Stahlproduktion schockt die westliche Stahlwelt. Vom "China-Gespenst" ist schon länger die Rede. Die Volksrepublik könnte mit ihren Stahlmassen in kurzer Zeit den Weltmarkt aus dem Gleichgewicht bringen und die Preise in den Keller schicken. Besonders betroffen vom Exportboom sind die asiatischen Nachbarn Südkorea und Taiwan. Allerdings steigen auch die Lieferungen in die USA und nach Europa. Nach Darstellung des europäischen Stahlverbands Eurofer sind die China-Lieferungen in den letzten vier Jahren in die EU um 3.300 Prozent hochgeschnellt.
Der Verband zog jetzt die Reißleine gegen die Sintflut und reichte zwei Antidumpingklagen gegen China, Südkorea und Taiwan für bestimmte Bleche ein. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sagten den deutschen Konzernen prompt Unterstützung zu. China sei ein Stahlexportland mit "ziemlich gravierenden Auswirkungen auf den europäischen Stahlmarkt", sagte die Kanzlerin vor ihrer Fraktion. Natürlich bestehe die Gefahr, dass bei staatskontrollierten Wirtschaftsunternehmen die Preistransparenz nicht so hoch sei wie bei den eigenen Wirtschaftsunternehmen. Mit China müsse darüber gesprochen werden, ob alles auf Basis der WTO-Regeln geschehe. "Wir brauchen faire Regeln im Welthandel", attestierte Glos. Und weiter: "Dumping mit staatlichen Mitteln ist etwas, das eine Branche auf Dauer nicht aushält."
Nach dem EU-Antidumpingrecht muss die Kommission innerhalb von 45 Tagen entscheiden, ob sie ein Antidumpingverfahren einleitet. Frühestens 60 Tage danach kann sie Maßnahmen in Form von Schutzzöllen oder Einfuhrbeschränkungen erlassen. Ein solcher Schritt würde den EU-Markt nicht abschotten, erklärt Eurofer. Fair gehandelte Exporte der beklagten Länder sowie aus anderen Drittstaaten könnten weiterhin ungehindert nach Europa fließen.
"Einige Unternehmen in China liefern Stahlprodukte zu Dumpingpreisen, das heißt in vielen Fällen sogar unter den Produktionskosten", hatte Dieter Ameling, der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, schon vor Wochen öffentlich auf der Weltststahlkonferenz in Berlin erklärt. Diese unfairen Preise seien vor allem deshalb möglich, weil China seine staatlichen Stahlunternehmen durch Subventionen fördere. "Das Problem China muss gelöst werden", fordert auch Ekkehard Schulz, der Chef des deutschen Branchenprimus ThyssenKrupp.
Nach Angaben des Branchenverbandes Eurofer bieten chinesische Exporteure Stahl in der EU bis zu 40 Prozent unter den Preisen in China an. "Nach den uns vorliegenden Daten zu den betroffenen Stahlprodukten können wir uns nicht vorstellen, dass die Klagen Aussicht auf Erfolg haben", hält Andreas Möhlenkamp, Hauptgeschäftsführer des Wirtschaftsverbandes Stahl- und Metallverarbeitung, dagegen. Der Exportpreis chinesischer Anbieter liege gerade in den vom europäischen Stahlverband Eurofer beklagten drei Fällen über dem Preisniveau in China, was dem Dumping-Tatbestand widerspreche. Die Stahlpreise bewegten sich in Europa nahe bei ihren historischen Höchstwerten. Das sauge Importe an "wie ein Staubsauger", habe aber mit Dumping nichts zu tun, sagte Möhlenkamp.
Sein Verband sei im Gespräch mit Eurofer und der EU-Kommission und grundsätzlich zu einer politischen Diskussion darüber bereit, wie dem Problem des internationalen Kostengefälles begegnet werden könne, teilte Möhlenkamp mit. Unfaire Wettbewerbspraktiken beträfen aber vor allem die stahl- und metallverarbeitende Industrie in Europa. China habe gerade in den vergangenen Monaten die steuerliche Bevorzugung von Stahlexporten aufgehoben und zusätzliche Exportzölle eingeführt. Dies habe Stahl für europäische Kunden verteuert. Während Walzdraht mit einem Exportzoll von zehn Prozent belegt sei, würden Draht-Fertigprodukte nicht belastet, was den Wettbewerb für deutsche und europäische Verarbeiter verschärfe. Die mehr als 4.600 überwiegend mittelständischen Unternehmen der Branche in Deutschland sind mit Abstand die wichtigsten Abnehmer der Stahlindustrie.
Wenn der chinesische Billigstahl nicht in den Export ginge, sondern im eigenen Land verarbeitet würde, kämen die Verarbeiter in Europa unter zusätzlichen Wettbewerbsdruck dieser Produkte, sagte Möhlenkamp. Seine Branche habe heute schon große Probleme, sich gegen Schrauben oder gezogene Drähte aus China zu wehren. Bei Antidumping-Maßnahmen gegen Stahllieferungen müsse die EU-Kommission sich darüber im Klaren sein, dass es dann zu weiteren Wettbewerbsverzerrungen in den verarbeitenden Stufen käme. Dies hätte eine Spirale handelspolitischer Schutzmaßnahmen mit zu erwartenden politischen Gegenmaßnahmen Chinas zur Folge.
China selbst weist die die Vorwürfe zurück. "Sie sagen, wir verkauften zu billig, aber ich weiß nicht, was sie damit meinen", erklärte der stellvertretende Generalsekretär des chinesischen Stahlverbandes, Qi Xiangdong. Das Handelsministerium sei "sehr besorgt" wegen der Forderung europäischer Unternehmen nach Antidumping-Maßnahmen, heißt es auf der Web-Seite des Ministeriums. Und weiter: "China hofft darauf, dass die EU-Kommission die Beschwerde mit großer Umsicht prüft und auf die Einführung von Antidumping-Maßnahmen verzichtet." Nach Überzeugung des Ministeriums haben die chinesischen Exporte der EU-Stahlin-dustrie nicht geschadet. Die Zunahme der Lieferungen erfolge ausschließlich aufgrund der hohen Nachfrage auf diesem Markt.
Noch vermasselt die Stahlflut aus China europäischen und deutschen Konzernen die Geschäfte nicht. "Eine solch lange Aufschwungphase wie derzeit hat es noch nicht gegeben", freut sich ThyssenKrupp-Chef Schulz. Nach einem Wachstum der deutschen Rohstahlproduktion auf voraussichtlich 48,6 Millionen Tonnen in diesem Jahr traut die Wirtschaftsvereinigung Stahl der Branche für das kommende Jahr ein Plus von drei Prozent zu.
Die Stahlkonzerne stellen im derzeitigen Branchenboom die Weichen für die Zukunft und investieren auch wieder kräftig in Deutschland. Weltmarktführer ArcelorMittal will mit Ausgaben von 220 Millionen Euro seine deutschen Standorte Eisenhüttenstadt und Bremen ausbauen, der deutsche Branchenführer ThyssenKrupp in- vestiert annähernd 700 Millionen Euro in seine deutschen Stahlwerke. Der Konzern steckt in den nächsten Jahren insgesamt mehr als 7 Milliarden Euro in den Ausbau der Stahlbasis. Gebaut werden eine Stahlhütte in Brasilien und ein Stahl- und Edelstahlwerk in den USA. Der zweitgrößte deutsche Konzern Salzgitter erhöht mit Ausgaben von 1,4 Milliarden Euro in den nächsten vier bis fünf Jahren seine Rohstahlkapazität und baut Gieß- und Walzbetriebe aus. Der Konzern schafft damit 550 neue Arbeitsplätze an den Standorten Salzgitter, Peine und Ilsenburg.
Dem Weltstahlverband IISI zufolge ist die Branchenkonjunktur in Deutschland besonders ausgeprägt und zieht die Nachbarländer bisher mit. Für das kommende Jahr erwartet der Verband aber ein langsameres Wachstum in Europa. Dagegen werden die Aussichten für die Weltstahlindustrie deutlich positiver eingeschätzt als noch im Frühjahr. Für 2007 und 2008 rechnet der Verband mit einer Zunahme der Nachfrage nach Stahl um 6,8 Prozent. 2007 dürften damit knapp 1,2 Milliarden Tonnen Stahl verbraucht werden.
Auch weit über diese kurzfristige Prognose hinaus ist weltweit kein Ende des Booms in Sicht. Die Deutsche Bank sagt in ihrer jüngs-ten Stahl-Studie ein Wachstum der Weltrohstahlproduktion bis zum Jahr 2015 um rund fünf Prozent pro Jahr auf dann 1,9 Milliarden Tonnen voraus. Wachstumstreiber bleibt Asien, wo die Produktion nach der Prognose im Schnitt jährlich um acht Prozent steigen wird.