Nein, nach Europathemen werde er eher selten gefragt, wenn Bürger in seine Sprechstunde kommen, sagt Axel Schäfer. Der Sozialdemokrat kommt aus dem Ruhrgebiet, sein Wahlkreis liegt in Bochum. Wenn Menschen sein Büro aufsuchen, wollen sie über "Probleme mit der Arbeit, der Wohnung, über Aufenthaltsrechte oder über persönliche Sachen" sprechen, erzählt er.
Dabei vereint Axel Schäfer beides, das Regionale und das Europäische. Einerseits lebt er seit vielen Jahren in Bochum, eines seiner Lieblingszitate stammt aus dem gleichnamigen Lied Herbert Grönemeyers: "Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser, als man glaubt." Gleichzeitig ist er seit mehr als 30 Jahren in der Europapolitik unterwegs - und das sei für ihn nicht nur ein "politisches Thema", sondern eine "Herzensangelegenheit", sagt er.
Europa hat Schäfer sozusagen von der Pike auf gelernt. Der Startschuss fiel für den gebürtigen Frankfurter mit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlamentes im Jahr 1979. Vorher hatten die Parlamente der Mitgliedstaaten noch die Volksvertreter nach Brüssel und Straßburg beordert. Auf einmal hieß es aber: Der Wahlkampf für Europa muss organisiert werden. "Als sie das hörten, dachten viele in meiner Partei: ,Europa, das ist etwas ganz Neues, da muss man Englisch, vielleicht sogar Französisch sprechen, das trauen wir uns nicht'", erzählt Schäfer. Er selber fasste sich ein Herz, stürzte sich als 26-Jähriger in den Wahlkampf um die Sitze in Brüssel, leitete in den 1980er Jahren das Europawahlbüro bei Willy Brandt.
Im Jahr 1994 zog er selber ins Europäische Parlament ein, wo er bis 1999 blieb. Auf welche Ergebnisse aus dieser Zeit er besonders stolz sei? Zwei Beispiele nennt Schäfer als Antwort: Auf das Wahlrecht, mit dem EU-Bürger in allen Mitgliedsländern gleichberechtigt mitmachen können, wenn das Europäische Parlament oder auch der Gemeinderat gewählt wird. Und auf die Einführung europäischer Betriebsräte in multinationalen Unternehmen. Auch heute noch schwärmt er vom "einmaligen Charme" Europas: "Es ist ein Unikat, manchmal auch ein Unikum", einzigartig und zuweilen auch etwas wunderlich. Kein Wunder, dass er sich im Jahr 2002, als er in den Bundestag einzog, für den Europaausschuss meldete. Seit acht Jahren verfolgt er von Berlin aus, wie sich das einzigartige Gebilde namens Europa entwickelt.
Der Vertrag von Lissabon wird nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin einiges umkrempeln: Denn auch die Parlamente der Mitgliedstaaten sollen in EU-Fragen mehr mitreden können. In Deutschland hatten das im Juli 2009, in ihrem Lissabon-Urteil, auch die Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe eingefordert. "Wir werden die Arbeitsweise unseres Parlaments in Zukunft ein Stück weit ändern müssen", stellte Schäfer damals im Bundestag fest. Wandeln müsse sich aber auch die "Mentalität", die "Einstellung zur Debatte über die Europäisierung auch unserer Politik", sagte er mit Blick auf die halbleeren Bänke im Plenum.
Seit einem halben Jahr gilt der Vertrag inzwischen, und erste Veränderungen lassen sich auch schon ausmachen. Beispielsweise in dem Ausschuss, dem Axel Schäfer seit acht Jahren angehört. "Das Bewusstsein, dass wir als Europaausschuss eine besondere Funktion haben, nämlich die eigene Regierung zu kontrollieren und zu positionieren, das ist jetzt deutlicher geworden", sagt er. Die Abgeordneten treffen sich in einem großen Sitzungssaal; durch das Panoramafenster des kreisrunden Raumes blickt man auf die Ausflugsdampfer auf der Spree und die spiegelnde Fassade der Bundestagsbibliothek am anderen Flussufer. Doch dafür haben die Parlamentarier keine Augen, wenn sich im Ausschuss Minister und Staatssekretäre den Fragen der Abgeordneten stellen. "Die Befragungen dauern jetzt länger", hat Schäfer festgestellt.
Im Dezember 2009 kam der Besuch nicht aus den Berliner Ministerien, sondern direkt aus der Stuttgarter Staatskanzlei: Noch vor seiner Anhörung in Brüssel stellte sich der designierte EU-Energiekommissar Günther Oettinger auf Vorschlag der SPD-Fraktion den Fragen der Bundestagsabgeordneten. "Noch bevor er ins Amt kam, hat er sich geäußert, wie er sich seine Amtsführung vorstellt, was er für Voraussetzungen mitbringt, was er für Ideen hat." Das lobt Schäfer und könnte sich vorstellen, dieses Vorgehen auch bei deutschen Ministern auszuprobieren. Denn: "Von der Ernennung von Familienministerin Schröder haben wir erst aus der Presse erfahren." Ein weiterer Pluspunkt für den Europaausschuss, den Schäfer nennt: Seit dieser Legislaturperiode tagt er verstärkt öffentlich. Jeder, der sich anmeldet, kann zuhören, wenn die Abgeordneten über den EU-Beitritt Islands oder neue Vorschriften für Rating-Agenturen diskutieren. Auch dass in seiner Fraktion das Engagement für europäische Themen stärker erwacht, freut Schäfer: "Wir haben erst vor kurzem als erste Fraktion eine Stellungnahme zur europäischen Bürgerinitiative abgegeben."
Doch er weist auch auf ein grundsätzliches Dilemma hin, das die Abgeordneten der schwarz-gelben Regierungskoalition plage: "Kontrollieren und Positionieren der Regierung - das ist das eine. Die Regierung erwartet aber immer auch ein Stückchen, dass sie sich auf ,ihre' Parlamentsmehrheit verlassen kann." Da gerieten die Mehrheitsfraktionen - aktuell eben CDU/CSU und FDP - "gerade bei Europafragen zwischen Baum und Borke". Auf der einen Seite seien sie verpflichtet, bei europäischen Fragen mitzureden - das haben die Richter in Karlsruhe gerade vergangenes Jahr bestärkt. Auf der anderen Seite sollten sie aber auch "die Regierung stützen, das heißt auch schützen". Das sei nicht nur bei der schwarz-gelben Koalition so. Mehr Selbstvertrauen wünscht sich Schäfer deshalb von den Bundestagsabgeordneten: "Wir sind das stärkste Parlament der Welt, aber wir nutzen unsere Parlamentsrechte nicht wie die Weltmeister."
Obwohl Schäfer seit vielen Jahren erlebt, dass Europapolitik kleinteilig, kompliziert und langwierig sein kann, hat er sich etwas von seiner ursprüngliche Begeisterung bewahrt. "Idealismus muss sein", findet er. Oft wird der Bochumer Abgeordnete an Schulen eingeladen, um den Schülern Europa zu erklären. Dann erzählt er von einer Klassenfahrt nach Frankreich, wo die Schüler ein Mädchen aus ihrer Klasse über die Grenze schmuggeln mussten - "die war gerade aus der DDR geflohen und ohne westdeutschen Pass konnte sie nicht rüber". Wenn er das heutigen Schülern erzähle, würden die denken, dass sei "hundert Jahre her", so viel habe sich mit der Öffnung der Grenzen verändert. Und dann gibt es auch Veranstaltungen, wo Schäfer im Gegensatz zu seinen Bürgersprechstunden sehr intensiv nach Europa befragt wird. Zum Beispiel bei einer Diskussion Mitte März, wo Schäfer auf dem Podium saß. Im Publikum: junge Leute aus Deutschland, Portugal, Litauen und Zypern. Wenn sie Fragen stellen, geht es nicht um Verfahrensfragen in den Parlamenten, sondern ums große Ganze: "Es gibt den Begriff des American Dream, des amerikanischen Traumes", sagt ein junger Mann. "Aber was ist Ihre Idee vom europäischen Traum?" Schäfer zögert da nicht lange: "Ich bin optimistisch. Mein Traum sind die Vereinigten Staaten von Europa."