Phnom Penh - Die Kolonne will kein Ende nehmen. Ein Bus nach dem anderen passiert die Einfahrt zum Hauptquartier der kambodschanischen Armee und stoppt schließlich vor dem letzten, im Pagodenstil errichteten Gebäude. Die Türen öffnen sich, die Menschen blicken sich erst vorsichtig um, bevor sie zögernd aussteigen und das Militärgelände betreten. 14 Busse haben diesmal 562 Dorfbewohner aus fast allen Provinzen Kambodschas vor die Tore der Hauptstadt Phnom Penh gebracht. Frauen, Männer, Alte und Junge, Schüler und Mönche - ein Querschnitt durch die Bevölkerung, der sich hier in brütender tropischer Hitze eingefunden hat. Sie sind gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, wo das Tribunal stattfinden soll. Das immer wieder aufgeschobene und fintenreich verhinderte Tribunal gegen die noch lebenden Verantwortlichen der Roten Khmer.
In den nächsten Wochen sollen insgesamt 6.000 Menschen nach Phnom Penh gebracht werden. Es ist eine Transportaktion mit hohem psychologischen Wert: Seht her, die lange Zeit der Recht- und Straflosigkeit geht zu Ende. Die Gerechtigkeit wird ihren Lauf nehmen. Das soll diesen Menschen, von denen viele zuvor ihr Dorf nur zur Reisernte verlassen haben, vor Augen geführt werden. Bevor sie das Gerichtgebäude betreten, müssen sie sich einem gründlichen Sicherheitscheck unterziehen.
Sri Ley war 19 Jahre alt, als sie von drei Soldaten der Roten Khmer vergewaltigt wurde. Seit drei Jahrzehnten wartet die immer noch traumatisierte Frau darauf, dass ihre Peiniger bestraft werden. Ihre Hoffnung ist von Jahr zu Jahr geschwunden. Völlig verschüchtert steht Sri Ley nun mit den anderen in dem Gerichtssaal vor 500 neu gepolsterten Stühlen und einer Bühne, auf der die Richter Platz nehmen werden. Es riecht nach frischer Farbe und poliertem Holz, die Klimaanlage rauscht. Ein Geräusch, das der in einer armseligen Hütte in der Provinz Kompong Thom lebenden Frau völlig fremd ist.
"Es ist alles so groß hier," murmelt sie, denkt eine Weile nach und fügt dann hinzu: "Für das Tribunal scheint es geeignet zu sein." Eine halbe Stunde lang hören die Menschen aufmerksam zu als der kambodschanische Pressesprecher des Gerichts, Reach Sambath, über die Prozessvorbereitungen berichtet. Schließlich fordert er die Besucher auf, Fragen zu stellen. Es dauert einige Minuten, bis sie ihre Hemmschwelle überwunden haben. Dann tritt einer nach dem anderen mit bebender Stimme ans Mikrofon: Ob es denn wahr sei, dass voraussichtlich höchstens zehn frühere Führer der Roten Khmer vor Gericht kämen? Und was sei mit den vielen, die auch ohne Befehl gemordet und andere Gräueltaten verübt haben? Sei denn daran gedacht, die Opfer zu entschädigen? Und ob es denn wirklich wahr sei, dass das frühere Staatsoberhaupt in der Pol-Pot-Ära, Khieu Samphan (77) ebenso wie der einstige Chefideologe Nuon Chea (79) völlig unbehelligt in Pailin an der thailändischen Grenze leben?
Ein Raunen geht durch den Saal, einige rutschen unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Die schrecklichen Bilder der Vergangenheit steigen in ihnen hoch. Eine alte Frau verhüllt ihr Gesicht mit dem Kroma, dem traditionellen Schal der Kambodschaner. Den Besuchern aus den Provinzen wird an diesem Tag noch viel zugemutet. Sie werden noch zum "Tuol Sleng" gefahren, dem früheren Folterzentrum, wo Pol Pots Schergen rund 15.000 Menschen solange marterten, bis sie sagten, was ihre Peiniger hören wollten. Nach der Tortur wurden sie auf den "killing fields" in der Nähe von Phnom Penh grausam umgebracht.
Die Roten Khmer waren penibel: Die Buchhalter des Todes führten lange Listen, schrieben die erpressten Geständnisse Wort für Wort nieder. Dann fotografierten sie ihre Opfer - erstarrte Gesichter, von Schlägen gezeichnet, von Angst verzerrt. Eine halbe Million Seiten mit Verhören, Protokollen und Geständnissen blieben zurück. Material, das die Ermittler des Strafgerichts nun auszuwerten haben.
Dem Staat "Demokratisches Kampuchea" der Roten Khmer fielen von 1975 bis 1979 1,7 bis zwei Millionen Kambodschaner zum Opfer. Sie wurden in so genannten Säuberungswellen umgebracht, die der Eliminierung vermeintlicher Feinde galten. Sie starben an Überarbeitung, verhungerten aufgrund von Mangelernährung oder erlagen Krankheiten, für die es keine Ärzte mehr gab, weil diese ebenfalls - wie die gesamte Intelligenz des Landes - umgebracht worden waren. De facto war Kambodscha in diesen Jahren des zügellosen Terrors ein einziges Zwangsarbeitslager. Es herrschte nackte Willkür.
Die Zahl der Opfer entsprach mehr als 25 Prozent der damaligen Bevölkerung. Erst Anfang 1979 wurden Pol Pots Mörder durch eine vietnamesische Invasion vertrieben. Es dauerte noch einmal 20 Jahre, bis die internationale Gemeinschaft den Wunsch äußerte, den Massenmord der Roten Khmer zu ahnden. Inzwischen sind weitere Jahre vergangen, ohne dass das Tribunal, das die Wunden Kambodschas heilen soll, offiziell eröffnet worden ist.
Lange Zeit wurde über die Finanzierung des Pro-zesses gestritten. Japan ging mit gutem Beispiel voran und übernimmt mit 21,5 Millionen Dollar den Löwenanteil, der Rest vereilt sich auf Australien (2,3 Millionen ) und einige europäische Staaten, darunter die Bundesrepublik mit 1,5 Millionen Dollar. Kambodscha wollte 13 Millionen übernehmen, zog diese Zusage aber später wieder zurück. Nur die USA hielten sich - wegen "mangelnden Vertrauens in die Fähigkeit des Gerichts" - zurück und spendeten gar nichts. Dabei leitete sie wohl die Sorge, dass ihre Rolle im Verlauf des Tribunals zur Sprache kommen könnte. In dieses Bild passt, dass die USA mit dem Königreich Kambodscha ein Abkommen geschlossen hat-ten, das die Auslieferung von Personen der jeweils anderen Nationalität an den Internationalen Gerichtshof verhindern sollte. Zwischen 1969 und 1973 waren weite Landgebiete Kambodschas von den USA bombardiert worden, wobei nach Schätzungen 600.000 Kambodschaner getötet wurden.
Inzwischen sind alle Richter für das Tribunal ernannt worden. Das Oberste Gericht des südostasiatischen Landes hat 13 ausländische Richter und Ankläger sowie 17 Juristen aus Kambodscha bestätigt. Die internationalen Prozessbeteiligten kommen aus den Niederlanden, den USA, Polen, Frankreich, Australien und Sri Lanka. Die Liste liegt nun König Sihamoni vor, dem Nachfolger von Norodom Sihanouk. Wenn dieser zustimmt, womit bald gerechnet wird, können die Ermittlungen beginnen.
Zu den Hauptverantwortlichen zählen neben den erwähnten Khieu Samphan und Nuon Chea der ehemalige Außenminister Ieng Sary, dann Ta Mok, einer der militärischen Spitzenführer, sowie der Direktor des Foltergefängnisses Tuol Sleng, Duch, der eigentlich Kaing Khek tev heißt. Wie Ta Mok sitzt Duch seit 1999 ohne Prozess in Militärhaft. Er ist inzwischen zum Christentum konvertiert und der einzige Verantwortliche, der ein umfangreiches Geständnis abgelegt hat. Pol Pot starb 1998. Seine Schwägerin Khieu Thirith, Ehefrau von Ieng Sary, könnte ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden. Sie war unter Pol Pot Sozialministerin und zumindest teilweise für die verheerende Sozialpolitik der Roten Khmer verantwortlich. Tausende militärische Unterführer werden wohl niemals belangt werden.
Kaum waren die kambodschanischen Juristen er-nannt, wurden einige von ihnen massiv kritisiert. Der als Ankläger vorgesehene Ney Thol beispielsweise ist Vorsitzender des Militärgerichts, das 2005 den Abgeordneten der oppositionellen Sam Rainsy Partei, Cheam Channy, zu sieben Jahren Haft verurteilt hatte. Dem Politiker war vorgeworfen worden, eine verbotene bewaffnete Einheit gebildet zu haben. Auf Druck der USA wurde Cheam Channy nach mehr als einem Jahr freigelassen. Auch dem als Ermittler vorgesehen Juristen Thong Ol werden falsche Anschuldigungen und Fehlurteile angelastet. Das Tribunal stünde unter keinem guten Stern, sollten ihm diese umstrittenen Juristen angehören.