Das Parlament: Herr Bertram, wann sehen Sie fern und was sehen Sie sich an?
Jürgen Bertram: Ich sehe immer weniger fern. Ich sehe hauptsächlich die "Tagesschau," die "Tagesthemen", hin und wieder Dokumentationen, ich schalte auch Arte ein. Zur Zerstreuung sehe ich mir Fußballspiele an.
Das Parlament: Ihr Buch trägt den Untertitel "Das Ende der Fernsehkultur". Was verstehen Sie unter Fernsehkultur?
Jürgen Bertram: Unter Fernsehkultur verstehe ich das, was die Gründungsväter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gemeint haben, nämlich seriöse Information, Aufklärung, den Versuch, die Zuschauer nicht nur zu berieseln und zu Konsumenten zu erziehen, sondern sie auch zu emanzipieren - das heißt aber nicht, dass sie bevormundet werden sollen - und ihnen Orientierungshilfe zu geben. Es ist jedenfalls nicht das, was heute passiert: Sie werden heute mit Boulevard und Entertainment konfrontiert.
Das Parlament: Was sind wesentliche Merkmale des von Ihnen beobachteten Untergangs der Fernsehkultur?
Jürgen Bertram: Ein wesentliches Merkmal ist die Boulevardisierung, also die Aufbereitung von Themen nach dem Unterhaltungsaspekt und -effekt. Alles, was problematisch ist - und mir scheint die Welt immer problematischer und komplexer zu werden - wird nicht aus allen Sendungen, aber aus vielen um des Effektes wegen herausgelassen. Ein Beispiel: Im NDR lief kürzlich ein Beitrag über eine Bäckerei, die sich darauf spezialisiert hat, Kekse für Hunde zu backen. Sicherlich ein ganz amüsantes Thema, es wurde von der Redaktion auch als Schmonzette präsentiert. Ich hätte als kritischer Journalist zumindest als Nebenaspekt die Tatsache eingebaut, dass diesem Vorgang auch etwas Obszönes innewohnt angesichts der zunehmenden Kinderarmut zum Beispiel. Das mag aus der Sicht viele heutiger Redakteure penetrant sein, aber der Generation, der ich angehöre, war so etwas noch nicht fremd.
Das Parlament: Wo liegen die Gründe für diesen Zustand?
Jürgen Bertram : Da gab es mehrere Marksteine, der wichtigste scheint mir die Einführung des Privatfernsehens 1984 gewesen zu sein. Da standen die Öffentlich-Rechtlichen vor einem historischen Scheideweg: Sie konnten sich entweder entscheiden, ihre Seriosität beizubehalten oder sich dem Privaten anzupassen und so eher auf Entertainment und Quote zu setzen. Dahin haben sie sich zumindest tendenziell entschieden, das ist einer der Grundfehler, die in den letzen Jahrzehnten gemacht wurden.
Eine weitere quasi Todsünde war die Tatsache, dass schon in den Gründerjahren der parteipolitische Proporz eingeführt wurde. Ich habe es selbst miterlebt, als ich 1972 zum NDR kam, dort war fast jede Redakteursstelle nach parteipolitischem Proporz besetzt. Das führt natürlich zu einer journalistischen Erosion, denn es zählt nicht mehr die Sache und es wird nicht mehr Partei ergriffen im Sinne der Protagonisten, sondern im Sinne der politischen Parteien. Da waren dann praktisch Funktionäre an den Schaltstellen und nicht mehr passionierte Journalisten.
Allerdings muss man heute sagen, mit der Entpolitisierung des Programms fällt auch der politische Proporz weg, die Spitzenpositionen aber werden heute noch eindeutig parteipolitisch besetzt und man kann Glück haben, dass unter den Spitzen auch mal ein guter Journalist ist.
Das Parlament: In Ihrem Buch kritisieren Sie Volksmusiksendungen als "akustischen Terror". Damit sprechen Sie gegen acht bis neun Millionen Zuschauer. Hat das gebührenfinanzierte Fernsehen nicht die Pflicht, diese Zielgruppe zu bedienen?
Jürgen Bertram: Das muss man differenziert sehen: Zunächst sind die Vernunft und der Geschmack nicht unbedingt mehrheitsfähig. Es gibt zu diesem Thema Forschungen - und da ist es mir auch egal, wie viele Leute diese Sendungen sehen - aus denen hervorgeht, dass die Instrumentalisierung bei diesen Volksmusiksendungen vulgär ist. Und dass die Inhalte der Liedtexte reaktionär sind. Sie vermitteln eine Tümelei und ein Idyll, dessen natürlicher Partner immer auch die Gewalt ist. Und wie eine Tsunami-Welle begraben solche Sendungen alles unter sich, was noch irgendwie filigran ist oder differenziert daherkommt. Der Philosoph Theodor W. Adorno, der ja auch Musikwissenschaftler war, hat diesen Effekt die Regression des Hörens genannt. Er meinte damit, dass jemand, der sich nur noch berieseln lässt durch solche Melodien, eines Tages die Fähigkeit verliert, sich auch filigranen Werken zu widmen. Das heißt, man stumpft buchstäblich ab, auch das Gehör stumpft ab.
Das Parlament: Seit dem 1. Januar sind die politischen Magazine der ARD 15 Minuten kürzer. Programmdirektor Struve begründete die Kürzung mit um 15 Minuten eher beginnenden "Tagesthemen", um so mehr Zuschauer zu gewinnen. Ausschlaggebend sei auch gewesen, dass es die Zuschauer so wollten. Finden Sie seine Aussagen plausibel?
Jürgen Bertram Die Zahlen sprechen zunächst tatsächlich dafür, dass die "Tagesthemen" dadurch angehoben worden sind. Sie haben schlichtweg mehr Zuschauer. Das gilt auch für die nachfolgenden Unterhaltungssendungen, die Herr Struve aus meiner Sicht in erster Linie im Auge hatte. Das macht aber nicht die Tatsache wett, dass die politischen Magazine dadurch verloren haben. Ich selbst habe für "Panorama" gearbeitet, und ich weiß, wie komplex die Stoffe sind, die dort recherchiert, bearbeitet und präsentiert werden. Dafür braucht man Raum und Platz, die Kürzung halte ich deshalb für fatal.
Das Parlament: Was sind Folgen dieser Kürzung?
Jürgen Bertram Folgen sind zum Beispiel, dass die Recherche nicht mehr so intensiv betrieben werden kann wie bisher. Man muss kürzer werden in der Recherche und Beitragslänge. Kürze führt oft zu Oberflächlichkeit, so dass das Ganze bald glatt wird und oberflächlich.
Das Parlament: Sie sind seit fünf Jahren pensioniert und können die Öffentlich-Rechtlichen kritisieren, weil Sie weniger von Sanktionen betroffen sind als die Journalisten, die gegenwärtig in den Redaktionen sitzen. Dennoch die Frage: Gibt es in den Redaktionen zu wenig Selbstkritik?
Jürgen Bertram: Ich denke ja, das habe ich schon zu meinen Zeiten erlebt, als ich zwei Redaktionen geleitet habe. Ich habe mich immer gewundert, wie still Journalisten in den Konferenzen waren, obwohl sie vorher auf den Fluren kritisiert haben. Die Kritik verstummte dann immer im Beisein von Hierarchen, die allerdings auch immer mit Sanktionen gedroht haben. Es gibt aber im Moment keinen privilegierteren Job als den eines langfristig angestellten Redakteurs beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Und es wundert mich schon, wie wenig Kritik und Selbstkritik dort geübt wird. Erst wenn wieder eine Kultur der Kritik entsteht, kann man hoffen, dass sich das Ganze wieder in eine bessere Richtung bewegt.
Das Parlament: Was kann der Zuschauer tun, dem die Boulevardisierung zuwider ist?
Jürgen Bertram: Der Zuschauer kann das tun, was gerade auf vielen Ebenen geschieht. Es gibt regionale Bündnisse von unzufriedenen Zuschauern, das sind sehr rationale und nicht querulatorische Menschen. Sie schreiben Petitionen an Rundfunkanstalten, schreiben Leserbriefe, starten Aktionen oder kleben in U-Bahnschächten Plakate. Sie haben sich mittlerweile auf Bundesebene zu einem Bündnis zusammengeschlossen und das macht sie stark. Sie erzeugen öffentlichen Druck, der konstruktiv und nicht destruktiv ist, und das halte ich für einen ersten wichtigen Schritt in Richtung öffentlicher Diskurs über das Programm.
Das Parlament: Lassen sich Teile der alten Fernsehkultur retten oder eine neue, bessere entwickeln?
Jürgen Bertram : Das ist schwer zu beantworten. Ich hatte geglaubt, dass die intellektuelle Phlegmatisierung in den Anstalten soweit vorangeschritten sei, dass es da wenig Hoffnung gibt. Aber Interviews, wie zum Beispiel neulich bei 3sat-"kulturzeit", haben mir gezeigt, dass es doch noch ein kritisches Potential gibt. Da war es nämlich so, dass nach dem Interview alle an der Sendung Beteiligten, vom Maskenbildner bis zum Regisseur, quasi aus allen Richtungen auf mich zusprangen und sagten, endlich sagt das mal einer, Sie sprechen uns aus dem Herzen. Es sei die Realität, die ich in meinem Buch aufgezeichnet habe, die Mitarbeiter fühlten sich nun ermutigt, auch ein bisschen Widerstand zu leisten. Der Widerstand muss von unten kommen, denn von den Hierarchen selbst ist wenig Besserung zu erwarten.
Das Interview führte Maik Forberger.
Jürgen Bertram: Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a. Main 2006; 240 S., 8,95 Euro