Nicht zuletzt mit Blick auf Deutschland sprechen Historiker vom 20. Jahrhundert als dem "Jahrhundert der Extreme" und dem "der Diktaturen", das immer wieder zu vergleichenden Analysen animierte. Sie stifteten die entsprechenden Kontroversen, wie man am Beispiel der Totalitarismustheorien in vielfältiger Weise studieren kann.
Die Publizistin Sabine Dengel hat eine weitere voluminöse Studie zu diesem Genre vorgelegt. Am Exempel des Deutschen Kaiserreichs, der NS-Diktatur und der DDR verfolgt sie die Strategien staatlich organisierter politischer Erziehung. Ihr Interesse gilt der Frage, wie die Führungen "jeweils versuchten, eine Entwick-lung und Stabilisierung ihrer politischen Systeme auf dem Weg der Transformation der politischen Kulturen ihrer Gesellschaft zu verwirklichen".
Einerseits sieht Dengel sich den Konzepten der politischen Kulturforschung verpflichtet, andererseits bearbeitet sie bildungshistorische Handlungsfelder ebenso wie Fragen der politischen Sozialisation. Das erste Kapitel führt knapp in die theoretische Konzeption ihres Forschungsprojektes ein, das durch die Einbeziehung des Deutschen Kaiserreichs in die Untersuchung durchaus neuartig ist. Im Anschluss daran widmet sich die Autorin - beeinflusst durch Max Webers Konstruktion des Idealtypus - der Analyse der politischen Kulturen des Kaiserreichs, des "Dritten Reichs" und der DDR. Die im Buchtitel genannten "Idealtypen" - Untertan, Volksgenosse, sozialistische Persönlichkeit - benennen dabei das Ergebnis ihrer Bemühungen, aus der Perspektive der jeweiligen Führung die idealen Persönlichkeitsprofile zu identifizieren.
In den weiteren Kapiteln konzentriert Dengel ihre Aufmerksamkeiten zunächst auf die intentionale Dimension politischer Erziehung, dann auf die strukturelle Dimension und schließlich am Beispiel der bildenden Kunst auf die staatliche Organisation politischer Erziehung. Die intentionale Dimension er- schließt sie durch knappe Analysen zur politischen Erziehung in Schulen und Hochschulen, im Militär und zur vermittelten staatlichen Selbstrepräsentation.
Ausgangspunkt der Studien ist jeweils die Annahme, dass die politische Führungen der drei Systeme erhebliche Anstrengungen unternommen haben, die politische Kultur gemäß ihrer Ideologie zu transformieren. Dies beinhaltet sowohl eine Frontstellung gegenüber den aufgeklärt-liberalen Gesellschaften des Westens als auch gegenüber dem jeweiligen zeitlichen Vorgängersystem. Um die Versuche der staatlichen Steuerung angemessen beschreiben zu können, greift die Autorin auf den in der historischen Bildungsforschung angesiedelten, gleichwohl umstrittenen Terminus des "Erziehungsstaates" zurück, ohne ihn allerdings näher theoretisch zu untermauern beziehungsweise begrifflich näher zu entfalten. In erster Linie bleibt damit der Begriff an das explizite und implizite Selbstverständnis der jeweiligen politischen Führungen gebunden oder er wird von ihr en passant durch einschlägige Zitate und Beispiele illustriert.
Eine besondere Rolle billigt Dengel den Intellektuellen zu, denn sie können als Lieferanten kulturrelevanter Wirklichkeitsdeutungen tendenziell auch als potenzielle Verfasser alternativer Leitbilder und Gegenkulturen gelten. Die Befunde allerdings sind ernüchternd. In allen drei Systemen hatten sie den politischen Zielkulturen und ihren systemfunktionalen Persönlichkeitstypen nur wenig entgegenzusetzen.
Insgesamt gesehen ist Dengels Studie theoretisch und methodisch ambitioniert angelegt und basiert auf einer soliden Quellengrundlage. Allerdings betreibt die Autorin auf mehr als 500 Seiten einen enormen Aufwand, um letztlich zu Ergebnissen zu gelangen, die nicht immer zu neuen Einsichten führen, weil ihre Studien sich phasenweise zu sehr auf die einschlägige Forschungsliteratur und deren Befunde stützen, ohne eigenständig mit Originalquellen zu arbeiten.
Sabine Dengel: Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit. Politische Erziehung im Deutschen Kaiserreich, dem NS-Staat und der DDR. Campus-Verlag, Frankfurt/New York 2005, 535 S., 55,- Euro