Bis zur Revolution befasste sich Mica Ion mit elektronischen Schaltplänen - heute sind es Stadtpläne. Die 53-jährige gebürtige Bukaresterin arbeitete bis 1989 als Ingenieurin für Elektroenergie und ist jetzt als Stadtführerin tätig. Nach der Privatisierung ihres Instituts wurde sie damals - so wie 2.200 der 2.500 Angestellten - entlassen. Also sattelte Mica um, lernte Sprachen und führt nun Ausländer durch das Land oder begleitet Rumänen ins Ausland. Die resolute Frau mit blondem Haar und blauen Augen lacht oft, redet laut und strahlt Optimismus aus, was die Zukunft Bulgariens angeht. Der kommunistischen Zeit trauert sie nicht nach: "Die Leute hatten ein Haus und etwas zu Essen, aber keine Freiheit!", erinnert sich Mica Ion. Heute baut sie auf den EU-Beitritt ihres Landes. "Uns wird immer gesagt: "Ihr seid noch nicht so weit, zum Beispiel ist die Korruption sehr hoch.' Ich weiß! Aber ich weiß nicht, warum wir nicht zu Europa gehören sollten. Wahrscheinlich standen wir Russland lange Zeit zu nahe - aber wir wollen in die EU!" Etwas Positives kann Mica dem Kommunismus aber abgewinnen: sie seien sehr erfindungsreich geworden, sagt sie über ihre Landsleute. "Außerdem arbeiten sie viel und sind sehr freundlich."
Die Mutter einer 16-jährigen Tochter hofft, dass der EU-Beitritt der Korruption ein Ende setzt und vor allem den Kindern bessere Berufschancen beschert. Schon in zwei, drei Jahren, hofft sie, werde alles besser sein. Experten dagegen warnen vor zu hohen Erwartungen. "Es ist der Bevölkerung und den Unternehmen nicht bewusst, dass der Reformprozess sehr, sehr lange dauern wird", sagt Dirk Rütze, Generaldirektor der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer. "Wenn wir annehmen, dass die Volkswirtschaft Ungarns weiter mit zwei Prozent wächst und die Volkswirtschaft Rumäniens mit fünf Prozent, dann werden sie sich erst im Jahre 2034 treffen." Bei aller Skepsis in Sachen Reformtempo ist er dennoch optimistisch. "Die Stärke Rumäniens liegt darin, dass die Menschen hungrig sind. Die wollen raus aus ihren Plattenbauten und ein Haus im Grünen. Es herrscht eine hohe Motivation, sich zu qualifizieren, und das wird Rumänien nach vorne bringen." Rütze, selbst seit 1999 in Rumänien, geht davon aus, dass sich das Land im Laufe der Jahre zu einer modernen Wirtschaftsorganisation entwickelt, das Rechtssystem stabiler und auch die Korruption zurückgedrängt wird.
Diese Hoffnung teilt er mit Gabriel Giurgiu. Er ist Leiter des Programms für Europäische Integration beim staatlichen Fernsehsender TVR und plädiert bei seinen Landsleuten für mehr Realismus: "Die Leute erwarten Geld für nichts - die EU als eine Art Santa Claus - und dass die EU ihr Leben regelt. Der Großteil der Bevölkerung hat eben unter dem Kommunismus gelebt, wo alles reguliert und subventioniert war." Giurgiu will aufräumen mit den falschen Erwartungen und hat daher eine Serie mit dem Titel "Gässchen nach Europa" gestartet. Der energische Mittvierziger weiß, dass das "Europa" nur schwer an den Mann zu bringen ist: "EU-Angelegenheiten verkaufen sich schlecht - sie sind langweilig, abstrakt und nicht gerade sexy." Um so mehr freut er sich über den Erfolg der Sendung, die hohe Einschaltquoten erreicht. Entstanden ist sie auf der Grundlage einer Meinungsumfrage unter der ländlichen Bevölkerung.
Danach wurden die Menschen eingeteilt in Kategorien, wie interessiert an der EU oder nicht, unternehmerisch oder konservativ. "In unserer Serie haben wir diese Menschentypen übernommen und lassen sie in einer Kneipe namens "Europa" zusammen kommen, denn wo sprechen die Menschen über die EU? In den Kneipen". In jeder Sendung geht es, so Girguiu, um drei europäische Normen, die den Agrarsektor betreffen. "Die Charaktere sprechen über die Normen und lachen drüber - oder auch nicht. Dann kommt ein kluger Bursche vorbei und sagt: "Ja, es ist lustig, aber es hat auch einen Sinn. Und versucht zu erklären: diese Norm ist wegen der Hygiene wichtig, diese wegen des Verbraucherschutzes." Dabei sei die Sitcom keine Propaganda für die EU, sagt Giurgiu. "Manche Normen sind wirklich dumm, und das sagen wir dann auch." Obwohl Giurgiu versucht, realistisch zu bleiben, nennt er sich selbst einen Europa-Enthusiasten. Er schätzt nicht allein die ökonomischen Vorteile der Gemeinschaft, sondern appelliert daran, an die ursprünglichen Werte Europas zu erinnern.
"Es herrscht seit 1945 Frieden in der EU! Das ist eine große Sache! Es gibt Redefreiheit und Bewegungsfreiheit - das alles hatten wir bis vor 17 Jahren nicht!" Diese optimistische Grundeinstellung scheint sich auch unter den jungen Leuten durchzusetzen, die nach der Wende noch reihenweise auswanderten, weil sie in ihrem Land keine Perspektiven sahen. Florin Sari ist 31 Jahre alt und hat eine Reihe seiner alten Schulfreunde und Studienkollegen von dannen ziehen sehen. Er selbst hat sich ganz bewusst dafür entschieden, in Rumänien zu bleiben, obwohl er im Ausland sicher gute Chancen hätte: Der studierte Journalist spricht fließend deutsch und englisch und hat ein sechsmonatiges Praktikum im Deutschen Bundestag absolviert. Seit fünf Jahren arbeitet er als Finanz-Administrator für das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung in Bukarest. Nebenbei absolvierte er einen Master in Projektmanagement. Ende Juni wird das Stiftungsbüro aufgelöst und Florin verliert seinen Job. Obwohl er noch nicht weiß, wie es weitergeht - bislang hatte er bei 40 Bewerbungen erst ein einziges Vorstellungsgespräch -, will er in Rumänien bleiben.
"Die wirklich großen Sachen kann man hier unternehmen, nicht im Ausland, wo schon alles ausprobiert wurde. Jemand, der ein Unternehmen aufmachen will, findet kein fertiges System vor, sondern muss sein eigenes System aufbauen und kreative Ideen haben." Zur Zeit plant er, sich mit einer Beraterfirma für Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit selbständig zu machen. Was den EU-Beitritt angeht, ist Florin - wie 80 Prozent der rumänischen Bevölkerung - äußerst optimistisch. "Ich wünsche mir diesen Beitritt! Nicht, weil ich die Vorstellung habe, dass irgendwann ein reicher Onkel mit einem Sack voller Euros an meine Tür klopft und sagt: ‚Sie sind der Gewinner der Millionenlotterie der EU!' Sondern weil ich glaube, dass sich vieles in diesem Lande bewegen wird."