Am Schlimmsten war es in der ersten Krawallnacht zum 19. September. Die Polizei war da noch nicht auf ihrem Posten und überließ dem rechten Mob praktisch kampflos das Feld, als dieser das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehens stürmte und - erstmals in der Geschichte dieser Medien-Institution - eine Unterbrechung des Sendebetriebs erzwang. Dutzende von Menschen, die Mehrheit von ihnen Polizisten, wurden in diesen Tagen verletzt, Todesopfer waren glücklicherweise keine zu beklagen. Später griff die Polizei organisiert und entschieden ein. So vereitelte sie einen Sturm der Militanten auf den Sitz der regierenden Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP). Nach Festnahmen einiger amtsbekannter Unruhestifter schwächte sich die Intensität der Ausschreitungen von Nacht zu Nacht ab. "Die Polizei ist Herr der Lage", erklärte der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány selbstbewusst am vergangenen Mittwoch. Dabei hatten sich die Unruhen an seinem kuriosen Eingeständnis, immer und speziell vor den jüngsten Parlamentswahlen im April gelogen zu haben, entzündet.
"Wir logen morgens, abends, nachts", sagte er unter anderem. Ebenso kurios war, wie diese Auslassungen zum Casus belli der ungarischen Innenpolitik werden konnten. Sie stammten aus einer Rede, die Gyurcsány am 26. Mai auf einer geschlossenen Sitzung der eben neu konstituierten sozialistischen Parlamentsfraktion im Plattenseebad Balatonöszöd gehalten hatte. Unbekannte hatten einen stark gekürzten Tonbandmitschnit am vorvergangenen Sonntag den Medien zugespielt.
Der durch die April-Wahlen im Amt bestätigte Regierungschef konfrontierte seine Parteifreunde in dieser Rede erstmals mit dem robusten Sparpaket, das er zwei Wochen später öffentlich verkünden sollte und dessen schmerzhafte Belastungen für die Bevölkerung den Weg zur Sanierung des seit Jahren steigenden - und von der EU heftig beanstandeten - Budgetdefizits ebnen sollen. Wie sich bei einer sozialistischen Parlamentsfraktion unschwer vorstellen lässt, meldeten sich die Bedenkenträger zu Wort: "Zu radikal, zu unpopulär." Das war der Moment, wo der 45-jährige Gyurcsány, ein ehemaliger kommunistischer Jugendfunktionär, der nach der Wende zum Selfmade-Millionär aufstieg und erst 2000 als ungarischer Adept des Blair'schen "Dritten Weges" wieder in die Politik fand, ausrastete. "Wir haben keine andere Wahl, weil wir es verschissen haben", schleuderte er den Genossen entgegen. "Reform oder Untergang", was anderes gäbe es nicht. Ja, bisher habe man gelogen, die Budgetzahlen frisiert, die Vorbereitung des Sparpakets im noch laufenden Wahlkampf verheimlicht. Man habe die Bevölkerung in der Illusion belassen, dass der seit zehn Jahren beständig ansteigende Lebensstandard ohne Opfer zu haben sei. So könne es nicht weitergehen. "Wir trauen uns nicht, eine Reihe gesellschaftlicher Lügen anzurühren, weil wir die politischen Konsequenzen für uns fürchten", legte er den Finger auf den wunden Punkt einer politischen Kultur in Ungarn, die bislang jede Regierung unabhängig von ihrer Färbung mitgetragen und perpetuiert hatte. Oder wie es der Politologe László Kéri formulierte: "Wer sich die Mühe nimmt, die ganze Rede zu lesen, wird draufkommen, dass sie davon handelt, dass das Reservoir jener Politik, die auf Lügen gründet, aufgebraucht ist."
Doch die Ausschnitte, die zunächst an die Medien gelangten, beschränkten sich auf das "Wir haben stets gelogen", garniert mit den ebenso der Leidenschaft geschuldeten wie vulgären Kraftausdrücken, zu denen sich Gyurcsány vor diesem nicht öffentlichen Forum hinreißen ließ. Sie waren Wasser auf die Mühlen der konservativen Opposition und ihres populistischen Führers Viktor Orbán. Seit 17. September, einem Sonntagabend, demonstrieren tausende Anhänger Orbáns vor dem Budapester Parlament und verlangen den Rücktritt Gyurcsánys.
Bereits zwei Wochen zuvor hatte Orbán in einem Zeitungsartikel die Regierung für "illegitim" erklärt, weil sie für das Sparpaket "keine Wählerermächtigung" hätte. Stoßtrupps von Orbáns Bund Junger Demokraten (FIDESZ) stören mit Trillerpfeifen und Zwischenrufen regelmäßig die Wahlkampfauftritte Gyurcsánys im Vorfeld der landesweiten Kommunalwahlen am 1. Oktober.
Der von 1998 bis 2002 regierende Ex-Premier hatte seine Abwahl nie verwunden. Sein Scheitern bei demokratischen Wahlen lässt ihn immer wieder darauf sinnen, die Macht auf außerparlamentarischem Wege zu erringen. Schon als Regierungschef hatte er mehr oder weniger offen mit der extremen Rechten paktiert, rechtsextremen und antisemitischen Postillen und Schreiberlingen seine Gunst erwiesen. Nach der Abwahl 2002 organisierte er die Pseudo-Volksbewegung der "Bürgerkreise", in die viele Rechtsextremis-ten einsickerten. Orbán hat sich nie klar und deutlich vom Gedankengut seiner zweifelhaften Bündnispartner distanziert. Nach den ersten Ausschreitungen in Budapest verurteilte er zwar die Gewalt, korrigierte aber keineswegs den Sprecher seiner Partei, Péter Szijjártó, der die Fernseh-Stürmer als Menschen beschrieb, die "von äußerster Verzweiflung und Verbitterung überwältigt wurden, nachdem sie erkannt hatten, dass die Regierung im Interesse des Machterhalts gelogen hatte".
Am vergangenen Dienstag legte Orbán im Fernsehen dar, wie er sich sein weiteres Wunsch-Szenario vorstellt. Bei den Lokalwahlen am 1. Oktober würden die Sozialisten eine schwere Niederlage erleiden. "Dann muss Gyurcsány gehen", statuierte Orbán. Auf die "Parteienregierung" würde eine "Expertenregierung mit beschränkten Kompetenzen und beschränkter Amtszeit" folgen, um Gyurcsánys Sparpaket zu kippen und vorgezogene Neuwahlen einzuleiten. Der Druck der Straße würde nicht nachlassen, solange Gyurcsány bleibt, weil "die Menschen ihre Interessen verteidigen".
"Orbán legt, wie immer in den vergangenen Jahren, die Latte hoch", kommentierte der Politikwissenschaftler und frühere Berater des Ex-Premiers, Péter Tölgyessy, den TV-Auftritt. "Und was ist, wenn die Niederlage der Sozialisten nicht so deutlich ausfällt? Und wie deutlich muss sie ausfallen?"
Gyurcsány denkt jedenfalls derzeit nicht an einen Rücktritt. "Die richtige Entscheidung ist, zu bleiben", erklärte er am vergangenen Mittwoch. In Ungarn kann außerdem, ähnlich wie in Deutschland, der Regierungschef nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum im Parlament gestürzt werden. Seine Partei steht aber bislang voll und ganz hinter Gyurcsány, und auch der liberale Koalitionspartner, der Bund Freier Demokraten (SZDSZ), sieht keine Veranlassung, ausgerechnet jenen Regierungschef der Linken abzuberufen, der wie kein anderer vor ihm auch authentisch liberale Werte und Haltungen verkörpert.
Während sich der dynamische Regierungschef in der Politik mit einer nahezu besessenen Leidenschaft engagiert, ist er keiner, der sich wie Orbán an das Amt klammert. Immer wieder sagte er in Interviews, dass er seinen Stuhl räumen würde, wenn ihn seine Partei in seiner Reformpolitik nicht mehr unterstützt. Oder wie er es in seiner freimütigen Plattensee-Rede ausdrückte: "So will ich nicht mehr weitermachen. Entweder wir machen es (die Reformen) und ihr habt den Mann dafür, oder ihr macht es mit einem anderen. Dafür braucht es eine andere Madame."