Anlong Veng - Die gewaltige Detonation ist noch in einem zehn Kilometer entfernten Dorf im Samraong Distrikt zu hören. Ein Traktor mit zehn Kambodschanern ist auf eine versteckte Panzermine gefahren, als er nur wenige Meter vom Schotterweg abkommt. Die Männer sind sofort tot, Teile des Traktors liegen bis zu 100 Meter weit verstreut. "Auf den meisten Feldern hier im Norden Kambodschas wurde im Bürgerkrieg gekämpft. Daher sind noch überall Minen vergraben," sagt Polizeichef Puth Sarann. Auch diese Panzermine sei wohl von den Roten Khmer gelegt worden. In den vergangenen 18 Monaten wurden in der Provinz Oddar Meanchey 23 Menschen durch Minen getötet. Da Autos und Kleinbusse meist völlig überfüllt sind, ist die Zahl der Opfer entsprechend hoch. Kürzlich kamen in einem benachbarten Distrikt bei einer Minenexplosion 13 Angehörige einer Familie ums Leben. Viele Gebiete in dieser Provinz wurden noch bis 1998 von den Roten Khmer kontrolliert.
Kein anderes Land der Welt ist so stark von Minen verseucht wie Kambodscha. Noch Mitte der 90er-Jahre wurden neuverlegte Sprengsätze im Tempelkomplex von Angkor Wat gefunden. Jährlich kommen hunderte von Kambodschanern bei Minenexplosionen ums Leben. Nach Informationen des Cambodian Mine Action Center (CMAC) werden jährlich durchschnittlich 850 Menschen getötet. Niemand weiß genau, wie viele dabei verstümmelt werden und ihr weiteres Leben als Bettler fristen müssen. Da die durchschnittliche "Lebenserwartung" eines vergrabenen Sprengsatzes mit 40 Jahren angegeben wird, ist die Gefahr besonders groß. Minen halten sich nicht an eine von Regierungen vereinbarte Waffenruhe. Mit großer Skepsis wird daher ein neuer internationaler Vertrag beurteilt, dem zufolge nach Kampfhandlungen alle "gefährlichen Munitionsrückstände" beseitigt werden müssen. Der Vertrag soll vor allem Zivilisten besser schützen, teilte das Internationale Rote Kreuz (IKRK) in Genf mit. Die Staaten verpflichten sich, nicht explodierte Granaten, Streubomben und Raketen zu markieren und zu räumen. Betroffene Gebiete müssen abgesperrt werden. Die USA, Russland und China haben das Abkommen noch nicht ratifiziert.
In Kambodscha sind die meisten Minen von den Re-gierungsstreitkräften verlegt worden. Aber auch die Gegenseite führte den Bürgerkrieg nach der Pol-Pot-Ära seit 1979 hauptsächlich mit Minen - um das eigene Gebiet zu sichern und um der von den Roten Khmer kontrollierten Zivilbevölkerung möglichst hohe Verluste zuzufügen. Untersuchungen von Hilfsorganisationen haben ergeben, dass viele Opfer auf Minen der eigenen Seite treten und oft wissen, welcher Gefahr sie sich aussetzen. Dabei treibt sie die nackte Not, die Suche nach Nahrung und Brennholz.
Es wird geschätzt, dass heute rund sechs Millionen Minen und UXO (unexploded ordnance, also Blind-gänger) in den größtenteils unwegsamen Gebieten des südasiatischen Landes lauern. Als die Vereinten Nationen 1992/1993 in einer großen Mission die ersten demokratischen Wahlen vorbereiteten, wurden noch etwa zehn Millionen Minen vermutet. Die UN gab fast drei Milliarden Dollar für ihre Mammut-Mission aus, bildete auch Kambodschaner aus, aber für die Minensuche war kaum Geld vorhanden. Die UN haben seinerzeit nicht einmal verhindert, dass aus thailändischen Lagern heimkehrende Flüchtlinge in frische Minenfelder gelaufen sind. Experten sind davon überzeugt, dass es noch Jahr-zehnte dauern wird, bis Kambodscha minenfrei sein wird. Und das hat eine ganze Reihe von Gründen: Zum einen geht die Regierung das Problem äußerst halbherzig an; die teure Drecksarbeit überlässt Minis-terpräsident Hun Sen lieber den ausländischen Organisationen wie der britischen Halo Trust. Die Entminung wird ferner erheblich durch den Monsun erschwert, wenn vor allem Plastikminen weggeschwemmt werden und in einem anderen Gebiet die Menschen erneut bedrohen. Dass die Regierung zur gleichen Zeit 135 kambodschanische Minenexperten in den Sudan schickt, gehört zu den kuriosen Widersprüchen in diesem Land.
Bei CMAC in Phnom Penh setzt man jetzt hohe Erwartungen in neue Geräte aus Japan. Diese hochmodernen Maschinen arbeiten mit Bodenradar, der Minen auf dem Bildschirm sichtbar machen kann. Die bisher verwendeten Metalldetektoren können nicht zwischen einer Mine und einem harmlosen Nagel unterscheiden.
In einem Privatmuseum am Rande von Siem Reap liegen sie aufgereiht: Panzerminen aus Russland, Handgranaten aus tschechischer Produktion, tellergroße Minen aus Vietnam, die nur in eine bestimmte Richtung explodieren und schließlich teuflisch kleine, grüne Plastikminen aus chinesischer Fertigung, die leicht in eine Hand passen. "Die Kambodschaner nennen sie ,Ungkaip' (Frosch), mit denen Kinder nichts-ahnend spielen, wenn sie die ,Frösche' auf dem Feld oder im Straßengraben finden," erklärt ein Fachmann der besonderen Art. Aki Ra - dem das Museum gehört - ist ein ruhiger junger Mann, der während des Gesprächs seinen kleinen Sohn streichelt - mit der gleichen Hand, mit der er sonst Minen entschärft.
Er überlegt kurz: Ja, so zwischen 10.000 und 20.000 Sprengsätze müssten es wohl sein, die er in den vergangenen Jahren im Dschungel oder auf den Feldern entschärft habe. Aki Ra lebt heute von dem, was ihm die Besucher seines Minenmuseums in eine Blechbüchse legen. Oft sind es nicht einmal 2.000 kambodschanische Riel, umgerechnet 40 Cent. Der Kambodschaner, der im blutigen Bürgerkrieg auf beiden Seiten gekämpft hat, hatte mit Minenräumgeräten noch nie etwas zu tun. Ohne Hilfsmittel geht er zu der Stelle, an der Reisbauern oder Holzsammler eine Mine entdeckt haben. Dann entschärft er sie mit bloßen Händen.
Wenn Fremde über soviel "Leichtsinn" den Kopf schütteln, erklärt ihnen Aki Ra in aller Ruhe, er sei durchaus kein Draufgänger. Er liebe seine beiden Söhne und seine Frau, die die Besucher in einer Phantasie-Uniform begrüßt, und würde schon aus diesen beiden triftigen Gründen sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Aber er habe viele Jahre mit Minen zu tun gehabt und wisse halt, wie mit ihnen umzugehen sei.
2000 wurde das Aki-Ras-Museum von den örtlichen Behörden vorübergehend geschlossen. Die Polizei steckte ihn selbst eine Woche lang ins Gefängnis. Wa-rum, das weiß er bis heute nicht genau. Angeblich, weil Aki Ra "unpassende Gegenstände" zur Schau stellte. Der wahre Grund aber scheint die Tatsache zu sein, dass der Betreiber eines zweiten Kriegsmuseums bessere Kontakte zu den Behörden hatte, beziehungsweise die verantwortlichen Beamten "schmiert." Inzwischen sei die explosive Lage entschärft, meint Aki Ra schmunzelnd - bis zum nächsten Störfeuer der unberechenbaren Behörden.