Der vorliegende Band fasst die Resultate dieses anspruchsvollen Forschungsvorhabens zusammen. Diese sind aber nicht nur für sozialdemokratische, sondern für alle Regierungen unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung von Bedeutung. Auffällig ist, dass die Politiker die Lösungen in der Nachbarschaft kaum berücksichtigen. Die deutschen Versuche einer Föderalismus- und Gesundheitsreform sind jedenfalls sehr "germanozentrisch" geraten. Dabei stellt doch der Hinweis auf Reformschritte in vergleichbaren europäischen Ländern das stärkste Argument für die eigenen Vorschläge dar.
Im Mittelpunkt der vergleichenden Untersuchung stehen die Antworten der Regierungen auf die "integrierten Märkte" in der Europäischen Union und weltweit. Nach Ansicht der Autoren wird der Handlungsspielraum der nationalen Regierungen durch die europäischen Regeln noch stärker begrenzt als durch die Globalisierung. Ihre Argumentation und die Darstellung ihres umfassenden Materials stellt allerdings Anforderungen an den Leser. Er muss sich auf eine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fachsprache sowie auf zahlreiche Anmerkungen und Literaturhin- weise einstellen Das Buch richtet sich in erster Linie an den großen Kreis der "Vorbereiter" und Kommentatoren von Politik sowie an die Politiker selbst.
Wer die Mühe des Einstiegs nicht scheut, wird durch neue Einsichten zur Finanz-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik in den sechs untersuchten Ländern belohnt. Viele Details betreffen die politische Diskus- sion in der Bundesrepublik unmittelbar: Da für Unternehmensgewinne und Kapitaleinkünfte "Freizügigkeit" besteht, gewinnen beispielsweise die Verbrauchssteuern und die Besteuerung der Löhne an Bedeutung. Diese Verschiebung der Steuerbelastung widerspricht nicht nur den ursprünglichen Zielen sozialdemokratischer Parteien, sondern auch den sozialpolitischen Vorstellungen anderer Richtungen. Beim Ver- gleich der Beschäftigungsstrukturen weisen Deutschland und Frankreich ein Defizit im Dienstleistungssektor auf, während in Dänemark und Schweden die Stellen im öffentliche Dienst besonders zahlreich sind. Bei der Konsolidierung der Haushalte lehnten die schwedischen Sozialdemokraten allgemeine Steuerentlastungen ab und waren erfolgreich. In Deutschland dagegen führten die Steuerreformen zu Einkommensausfällen und trugen zum Haushaltsdefizit bei. Was schließlich die Bildungsausgaben betrifft, liegt Dänemark an erster Stelle, während Deutschland mit deutlichem Rückstand den letzten Platz einnimmt.
Wie diese Beispiele zeigen, führen die Autoren das "Benchmarking" aus der Anfangszeit der Regierung Schröder fort, welches zum Nachteil der rot-grünen Koalition allzu früh aufgegeben wurde. Das zentrale Thema des Bandes sind die Reformen des Sozialstaats, die nach wie vor als Hauptaufgabe der Großen Koalition anzusehen sind. Nach den Ergebnissen der Untersuchung haben Deutschland und Frankreich weitaus größere Anpassungsschwierigkeiten als Großbritannien, die skandinavischen Länder und die Niederlande. Beim Haushaltssaldo, bei der Staatsverschuldung und bei der Arbeitslosenquote bilden diese beiden Länder die Schlusslichter der Gruppe. Hierfür sind nicht zuletzt die politischen Strukturen verantwortlich. Bei der Aufzählung der Gegengewichte zur Regierungspolitik liegt Deutschland mit seinem föderalen Aufbau, seinem Bundesrat und seinem Bundesverfassungsgericht mit Abstand an der Spitze. In keinem anderen Land sind die Gelegenheiten zum Veto gegen neue Regelungen so zahlreich wie hier. Der Handlungsspielraum der Londoner Einparteienregierung von "New Labour" erscheint im Vergleich hierzu "stromlinienförmig".
Bei der Lektüre stört ein wenig, dass in den Anfangskapiteln bereits Resultate formuliert werden, die sich erst aus den nachfolgenden Länderstudien ergeben. Die Aversion der Verlage gegen Fußnoten verlangt auch bei diesem Buch ständiges Umblättern. Die inhaltlichen Anmerkungen findet man zwar unten auf der Seite, die Literaturnachweise müssen aber hinten im Anhang nachgeschlagen werden. Eine differenzierte Gliederung erleichtert jedoch das Auffinden von Daten und Bewertungen zur Innenpolitik in den sechs untersuchten Ländern. Die Bedeutung der Koalitionspartner in den sozialdemokratisch geführten Regierungen hätte allerdings ausführlicher berücksichtigt werden können. Entsprechendes gilt auch für die Rolle maßgebender Politiker, wie beispielsweise Tony Blair, Gordon Brown, Gerhard Schröder, Hans Eichel oder Wim Kok und Göran Persson.
Insgesamt haben die Heidelberger Sozialwissenschaftler ein zwar nicht leicht lesbares, aber sehr nützliches Buch vorgelegt. Man kann schließlich die Probleme kaum einfacher darstellen als sie in Wirklichkeit sind.
Wolfgang Merkel, Christopf Egle, Christian Henkes, Tobias Ostheim, Alexander Petring: Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa. VS-Verlag, Wiesbaden 2006; 506 S., 39,90 Euro.