Anregende Darstellungen zur Geschichte folgen in der Regel einem roten Faden, der den Leser durch die Ereignisse führt und die Vergangenheit verständlich macht. Die Historiker Arnulf Baring und Gregor Schöllgen schildern in "Kanzler, Krisen, Koalitionen" die Geschichte der Bundesrepublik im Spiegel der Kanzlerbiografien. Sie sind für dieses Vorhaben bestens ausgewiesen: Arnulf Baring legte maßgebende Arbeiten zur Adenauer-Zeit und zur sozial- liberalen Koalition vor, Gregor Schöllgen publizierte zur deutschen Außenpolitik und über Willy Brandt.
Das Buch - eine um die zweite Amtszeit Gerhard Schröders und den Beginn der Großen Koalition unter Angela Merkel erweiterte Fassung der bereits 2002 erschienenen gleichnamigen Publikation, ist flüssig geschrieben und begrenzt die wissenschaftliche Fachsprache auf das unbedingt Notwendige. Der erste Teil wirkt trotzdem ein wenig blass - vielleicht, weil man Berichte über die Politik Adenauers, Erhards und Kiesingers schon mehrfach gelesen, gehört oder im Fernsehen gesehen hat. Mit der Kanzlerschaft Willy Brandts gewinnt die Darstellung an Farbe und bleibt bis zum letzten Kanzlerwechsel anregend. Der Text wird durch gut ausgewählte Fotos ergänzt.
Ein Längsschnitt durch die bald 60-jährige Geschichte der Bundesrepublik muss Schwerpunkte setzen, weil der Stoff sonst zu umfangreich würde. Die Darstellung von Baring und Schöllgen zeichnet sich durch eine ausführliche Berücksichtigung der Außenpolitik aus. Stellenweise hat man beim Lesen den Eindruck, die Neigung der Bundeskanzler, durch außenpolitische Aktivitäten den Niederungen der Innenpolitik zu entkommen, habe auf die Autoren abgefärbt. Wichtige innenpolitische Entscheidungen, die durchaus noch aktuelle Bedeutung haben, werden dagegen nur kurz erwähnt und nicht problematisiert. So hätte man zum Beispiel Adenauers Rentenpolitik sowie die Gemeinschaftsaufgaben und die Finanzverfassung der Großen Koalition unter Kiesinger ausführlicher kommentieren können.
Die Einteilung der Kapitel ist für den Leser verwirrend: So werden Kiesingers Regierungszeit und die sozial-liberale Regierung Brandts ungeachtet aller Unterschiede unter der gemeinsamen Überschrift "Umbau" geschildert. Das Schlusskapitel spannt die Große Koalition Angela Merkels mit Schröders zweiter Amtszeit zusammen. Es trägt die Überschrift "Konsolidierung" - von den Autoren allerdings mit einem Fragezeichen versehen. Baring und Schöllgen sehen offenbar in der Großen Koalition keine eigenständige Variante des deutschen Regierungssystems.
Die beiden Teile des Buches über die Regierungszeit Gerhard Schröders wird der Leser mit besonderem Interesse verfolgen. Sie informieren über die weitgehend erfolgreiche Außenpolitik, aber auch über die innenpolitischen Schwierigkeiten des sozialdemokratischen Kanzlers. Die Auseinandersetzungen um Reformen mit der eigenen Partei und mit dem Bundesrat dokumentieren sein stetiges Auf und Ab. Mit den Hartz-Vorschlägen und der Agenda 2010 versuchte Schröder demnach die Flucht nach vorn anzutreten. Die verlorenen Landtagswahlen, die innerparteilichen Debatten und die Umfrageergebnisse zeigen, dass er mehrfach "mit dem Rücken zur Wand" stand. Die Gründe für Schröders Entschluss, Neuwahlen herbeizuführen, sind aber auch in dieser Darstellung nicht eindeutig erkennbar. Glaubte er an den eigenen Wahlsieg bei der vorgezogenen Bundestagswahl oder war er entschlossen, selbst den Schlussstrich unter seine Kanzlerschaft zu ziehen?
Das Buch bietet einen guten Einstieg in die politische Geschichte der Bundesrepublik und ist für einen breiteren Leserkreis durchaus zu empfehlen. Seine unzureichende Systematik erschwert allerdings dem Leser den Bezug zur Gegenwart. Die in der Vergangenheit liegenden Ursachen aktueller Probleme lassen sich anhand der Darstellung kaum rekonstruieren. Auch der im Vorwort angemeldete Anspruch, die Gründe für den Machterhalt und den Machtverlust der Kanzler darzulegen, wird kaum erfüllt.
Arnulf Baring, Gregor Schöllgen: Kanzler, Krisen, Koalitionen. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel. Pantheon-Verlag, München 2006; 352 S., 11,90.