Völkermord
Jacques Sémelin sucht nach sozialwissenschaftlichen Erklärungsmustern
Der französische Politikwissenschaftler Jacques Sémelin, dem interessierten Publikum bekannt durch seine Online-Enzyklopädie zur Massengewalt, begibt sich in seinem neuen Buch "Säubern und Vernichten" erneut auf die Spuren der Barbarei. Er will erklären, wie massenhafte Vernichtungswut zur systematischen Ermordung ganzer Volks- gruppen führt.
Sémelin ist bewusst, dass ganze Generationen immer wieder zu verstehen versuchen, wie es zu Völkermorden kommt und warum ausgerechnet ein spezifisches Volk oder eine Minderheit ausgelöscht werden soll. Aus der Perspektive des Sozialwissenschaftlers will er einen systematischen Beitrag zum Verständnis jener Prozesse leisten, die aus Individuen Massenmörder machen.
"Zu lange", meint der Wissenschaftler, hätten die Sozialwissenschaften dieses Forschungsfeld vernachlässigt und den Historikern überlassen. Die in der Genozid-Forschung bekannte Methode des Vergleichs verwendet auch Sémelin: Ausführlich analysiert er den Holocaust sowie "die Fälle" Ruanda und Bosnien zu Beginn der 1990er- Jahre. Allerdings legt der Autor gleich zu Beginn seiner Ausführungen Wert auf die Feststellung, dass der Begriff "Völkermord" zu ungenau sei und auch oft missverständlich verwendet werde. Deshalb plädiert er dafür, den Begriff "Massaker" zu benutzen, quasi als kleinsten gemeinsamen Nenner. Für den Bereich der Sozialwissenschaften definiert er Massaker als "eine zumeist kollektive Form der Vernichtung von Nicht-Kombattanten". Damit glaubt er besser einschätzen zu können, wie sich ein Massaker oder eine Serie von Massakern zu einem Völkermord entwickeln.
Vor diesem Hintergrund kritisiert Sémelin eine Vielzahl von Publikationen, die die Termini "Völkermord", "Holocaust" oder "Genozid" synonym verwenden und deren Autoren zudem immer neue Begriffe kreieren. Als Beispiele nennt er den "Politizid", den "Geno-Politizid", den "Ökozid", den "Demozid", den "Gendercide", den "Femizid" und den "Elitizid". Diese Neuschöpfungen seien in Wahrheit überflüssig, da der Begriff "Massaker" das Phänomen ausreichend klar beschreibe.
Bevor Sémelin seine "Massaker"-These präsentiert, referiert er ausführlich den Forschungsstand und stellt empirische Untersuchungen vor, nur um anschließend zu unterstreichen, er habe keine "Relativierung" des Holocausts oder anderer Völkermorde im Sinn. Gleichwohl kann er nicht überzeugend darlegen, warum der Begriff Völkermord "undefinierbar" sein soll, wie er immer wieder betont. Zudem unterstellt er dem Schöpfer des Genozid-Begriffs, Professor Rafael Lemkin, dieser habe keine durchdachte Definition liefern können, weil er "nur wenige zuverlässige Informationen" über die Vorgänge im nationalsozialistischen Europa gehabt habe.
Ein solcher Fehler hätte Sémelin nicht passieren dürfen: Denn Lemkin entwickelte seine Völkermord-Definition nicht nur am Beispiel der nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Juden, sondern er hatte bereits die gezielte Vernichtung eines ganzen Volkes ausführlich untersucht: den Völkermord an den Armeniern in der Türkei während des Ersten Weltkrieges. Lemkin setzte beide Verbrechen in Beziehung zueinander und konnte so klare Kriterien für die Völkermord-Definition herausarbeiten.
Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass Sémelin nicht gründlich genug recherchiert hat. So hätte er wissen müssen, dass der Begriff "Verbrechen gegen die Menschheit" nicht aus den Jahren 1945/46 stammt. Vielmehr wurde er erstmals im Mai 1915 von den Entente-Mächten in Bezug auf die Ausrottung der Armenier in der Türkei erwähnt.
Des Weiteren meint Sémelin, dass die in der UN-Konvention fixierte Definition über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 eher in juristischen Zusammenhängen zu benutzen sei, während sie für die sozialwissenschaftliche Forschung zu allgemein sei. Schließlich beriefen sich viele Überlebende von Massakern auf diese Definition, um internationalen Schutz zu erhalten und die Täter einer Bestrafung überantworten zu können.
In diesem Zusammenhang ist die Kontroverse Sémelins mit der Genozid-Forschung durchaus fehl am Platz, weil nur in wenigen Fällen tatsächlich eine Anerkennung als Völkermord erfolgt. Einspruch erheben vor allem die betroffenen Staaten beziehungsweise die Täter, die aus durchschaubaren Gründen weder politisch gebranntmarkt noch finanziell haftbar gemacht werden wollen.
Würde die Wissenschaft den von Sémelin eingeführten "Massaker"-Begriff übernehmen, müsste die Geschichte des 21. Jahrhunderts umgeschrieben und die tatsächlich stattgefundenen Völkermorde künftig verharmlosend als "Massaker" bezeichnet werden. Zu überzeugen vermögen auch nicht die fortgesetzten Versuche des Wissenschaftlers, der Forschung seinen Begriff aufzuzwingen und damit die Freiheit der Wissenschaften einzuschränken, die für Historiker und Juristen genauso wie für Sozialwissenschaftler gilt.
Trotzdem hat Jacques Sémelin ein herausragendes Handbuch veröffentlicht, in dem er wie ein Kriminalist der Genese von Massakern nachspürt. Ein detaillierter Fragen- katalog soll helfen, diese Art Verbrechen systematisch zu erfassen und zu typologisieren. Insgesamt hat der Autor eine Streitschrift vorgelegt, die ein neues Kapitel in den Sozialwissenschaften auf- schlagen dürfte.
Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von
Massakern und Völkermorden.
Hamburger Edition, Hamburg 2007; 450 S., 40 ¤