Pakistan
»Außen« und »Innen«, Taliban oder Geheimdienste - das sind keine tauglichen Kategorien, um das Land zu verstehen
Pakistan wird regelmäßig als das gefährlichste Land der Welt bezeichnet. Das ist eine journalistische Zuspitzung, doch trifft sie auf Pakistan zu wie auf kein anderes Land der Welt. Nirgendwo sonst gibt es eine so gefährliche Mischung aus Atomwaffen und gewaltbereiten islamistischen Extremisten. Und kaum ein anderes Land wird in so kurzen Abständen von derart heftigen Krisen geschüttelt.
Allein der Blick auf das Jahr 2007 zeigt das ganze Ausmaß der Krise. Im März entließ der Präsident Pakistans, General Pervez Muscharraf, den Obersten Richter des Landes. Es folgten monatelange Straßenproteste. Im Juli ließ Muscharraf die Rote Moschee im Herzen Islamabads stürmen. Dort hatten Islamisten einen Brückenkopf der Taliban errichtet. Offiziell starben mehr als 100 Menschen, inoffiziell spricht man von vielen hundert Opfern. Im November erklärte Muscharraf den Ausnahmezustand mit der Begründung, den Terrorismus zu bekämpfen. In Wahrheit ging er hart gegen gegen Anwälte und Richter vor. Am 27. Dezember schließlich kam die führende Oppositionspolitikerin, Benazir Bhutto, die erst am 18.Oktober aus dem Exil zurückgekehrt war, bei einem Anschlag in Rawalpindi ums Leben. Landesweite Unruhen und eine Verschiebung der geplanten Parlamentswahlen waren die Folge. Das ganze Jahr über stieg die Zahl der Selbstmordattentate. Der Krieg in den Stammesgebieten nahm an Intensität zu. Die Welt blickte also aus gutem Grund mit angehaltenem Atem auf Pakistan.
Im Westen ist die Wahrnehmung Pakistans von einer Dichotomie geprägt: Säkulare gegen Islamisten; prowestliche Kräfte gegen antiwestliche Kräfte; Konservative gegen Reformer; Pro-Amerikaner gegen Anti-Amerikaner. Die Politik des Westens gegenüber Pakistan stützt sich auf diese Annahmen.
Beispielsweise haben die USA und Europa jahrelang den "gemäßigten" General Pervez Muscharraf unterstützt, weil er angeblich ein Bollwerk gegen die Islamisten ist. Dabei ist das Militär an sich weder prowestlich noch antiwestlich. Es ist vor allem an der Erhaltung und Mehrung der Macht interessiert. Wenn es dem Militär nutzt, prowestlich zu sein, dann wird es prowestlich sein. Muscharrafs achtjährige Herrschaft hat das immer wieder bewiesen. Der General mehrte seine Macht und benutzte dabei alle, die ihm nützlich schienen - ganz gleich welcher politischer Couleur sie waren. Muscharraf hat seinen Offizieren in allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft lukrative Pfründe und Posten verschafft. Heute ist das Militär das größte Wirtschaftsimperium des Landes.
Wer sich in Pakistan gegen Korruption, Misswirtschaft und Repression wandte, tat es immer öfter im Namen des Islam. Im Klima der Repression wurde die Moschee mehr und mehr zum einzigen halbwegs geschützten Raum, in dem sich politische Opposition artikulieren konnte. Es war für den General einfach, die kritischen Stimmen aus der Moschee als gefährliche Islamisten zu brandmarken. Der Westen, der in den simplen Freund-Feind-Kategorien denkt, die nach dem 11. September 2001 Konjunktur hatten, glaubte dem General und ließ ihn gewähren. Das Ergebnis kann man jetzt besichtigen: Pakistan ist dabei, ein "failing state" zu werden.
Auch Benazir Bhutto ist ein gutes Beispiel für die verwirrende Widersprüchlichkeit Pakistans. Benazir war der Spross einer mächtigen Großgrundbesitzerfamilie, die gleichzeitig eine der wichtigsten politischen Dynastien Pakistans hervorbrachte. Ihr Vater, Zulfikar Ali Bhutto, gründete 1967 die Pakistans Peoples Party (PPP). Er elektrisierte die verarmten Massen Pakistans mit einer Mischung aus nationalem Pathos, sozialistischen Versprechen und religiöser Inbrunst. "Roti, Kapran, Makan" (Brot, Arbeit, Wohnung) - lautete seine Slogan für die Massen. Doch Bhutto blieb in seinem Herzen ein autoritärer Großgrundbesitzer. Weder er noch seine Tochter, die zwei Mal Premierministerin war, haben eine Landreform durchgeführt. Großgrundbesitzerfamilien blieben auch mit den Bhuttos an der Macht politisch und gesellschaftlich bestimmende Kräfte Pakistans. Die Bhuttos haben das Los der Armen nicht verbessert, und sie haben die sozialen Machtverhältnisse nicht wesentlich verändert. Trotzdem starb Benazir Bhutto als Heldin der Armen. Es war ihr gelungen ist, die Illusion der Massen zu nähren, sie könnten mit ihrer Hilfe Herren über ihr Schicksal werden. Auch das ist eine Besonderheit Pakistans, die in kein Schema passt.
Bhutto galt im Westen als eine säkulare Politikerin. Das war zumindest eine Halbwahrheit. Sie war nämlich auch die Frau, die die Taliban "erfand". Während ihrer zweiten Amtszeit (1993-1996) hoben die pakistanischen Geheimdienste die Taliban als militärische und politische Kraft aus der Taufe. Als aber Bhutto am 18. Oktober des vergangenen Jahres nach acht Jahren Exil nach Pakistan zurückkehrte, war die Mutter der Taliban die liberale Kandidatin der USA. Soweit zu den verwirrenden Verhältnissen in Pakistan, die sich den einfachen Kategorien des Westens entziehen.
Als Bhutto starb, behauptete die Regierung, die Taliban seien für den Mord verantwortlich. Bhuttos Partei hingegen zeigte mit dem Finger auf die Regierung, insbesondere auf Präsident Muscharraf. Mit anderen Worten: Die Regierung sagte, dass die Mörder von "außen" kamen, aus den Stammesgebieten, wo die Taliban ihr Unwesen treiben. Die PPP sagte, dass die Mörder von "innen" kamen, aus dem Apparat. Diese Unterteilung zwischen "außen" und "innen" übernahm auch der Großteil der westlichen Medien bei der Interpretation des Bhutto-Mordes. Doch auch dies war eine typische Vereinfachung. "Außen" und "Innen", Taliban oder Geheimdienste - das sind keine tauglichen Kategorien, um den Mord zu erklären und das Pakistan von heute zu verstehen.
Wenn auch im kriminalistischen Sinne keine Klarheit über die Täter und ihre Auftraggeber besteht, so lassen sich die Motive der Mörder Bhuttos doch rekonstruieren. Die Auftraggeber wussten, dass der gewaltsame Tod Bhuttos das Land destabilisieren würde. Tatsächlich brannte nach dem Attentat tagelang die Straße. Pakistan schien dem Bürgerkrieg nahe. Dieses Chaos kann nur jemand wollen, der ideologisch motiviert ist, jemand wie die Taliban oder Al-Qaida. Bhuttos Tod konnte möglicherweise, alle und alles verschlingen. Daran hat keiner im Apparat ein Interesse, der an seine Macht absichern oder stärken will. Ein machtpolitisches Kalkül ist hinter dem Mord an Bhutto daher nicht zu erkennen.
Andrerseits konnte das Attentat nur ausgeführt werden, wenn es die Täter und ihre Auftraggeber Kontakte zum Apparat hatten. Jedenfalls spricht der Tathergang für diese These. Das bedeutet aber, dass innerhalb des Apparates ideologisch motivierte Leute zu finden sind, die den Zusammenbruch des Systems in Kauf nehmen oder sogar anstreben. Anders gesagt: Die Taliban sitzen nicht nur in den Stammesgebieten, sie sitzen auch im Herzen des Apparates. Die Grenze ist verwischt.
Das führt zu einer Einsicht, die mit den üblichen, einfachen Wahrheiten des Westens über Pakistan nicht übereinstimmt. Üblicherweise wird das Schreckgespenst an die Wand gemalt, dass radikale Islamisten in Pakistan die Macht übernehmen könnten. Es ist die Rede von der Talibanisierung Pakistans. Doch müssen wir uns nicht davor fürchten, dass morgen ein bärtiger Fanatiker den Atombombenknopf bedienen wird können. Die wirkliche Gefahr ist eine ganz andere. Der Staat Pakistan kann zerfallen, nicht mit einem großen Knall, aber Stück für Stück. Teile des Landes sind schon heute nicht mehr unter Kontrolle der Regierung. Talibanisierung heißt nicht, dass eine Armee fanatischer Gotteskrieger vor den Toren Islamabads steht und drauf und dran ist, die Stadt einzunehmen. Pakistan ist eine viel zu differenzierte, widersprüchliche Gesellschaft, als dass dies geschehen könnte. Die Abwehrkräfte gegen den religiösen Fanatismus sind bemerkenswert. Talibanisierung heißt vielmehr Auflösung säkularer, zentralstaatlicher Strukturen. Sie heißt, dass die vertikale Kommandostruktur der Armee zerbricht. Sie heißt Kontrollverlust. Sie heißt, dass ganze Gebiete an die Taliban und damit auch an Al-Qaida verloren gehen. Talibanisierung heißt, dass sich Pakistan und mit ihm Afghanistan in ein "schwarzes Loch" verwandeln. Je größer dieses "schwarze Loch", desto größer ist die Gefahr von Terroranschlägen. Und ein Ausloten dieses gefährdeten Gebietes wird nur gelingen, wenn man sich von alten Vorstellungen verabschiedet.