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Premier Badawi behält die Parlamentsmehrheit und sein Amt - dennoch ist er der Wahlverlierer
Bewahrt Ruhe, seid besonnen, bleibt zu Hause", beschwört der Internetblogger Jeff Ooi seine Anhänger. Keinesfalls möchte er der Regierung Anlass geben, den Notstand auszurufen und sich besonderer Rechte zu ermächtigen. Diese Sorge ist übertrieben. Bei dem "politischen Tsunami", wie viele Malaysier die Situation nach der Parlamentswahl beschreiben, gehen wenige auf die Straße. Allein der makabre Vergleich mit der schlimmsten Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte zeigt aber, wie sehr die Menschen von dem Wahlergebnis überrascht worden sind. Denn die Regierungskoalition Barisan Nasional ("National Front", BN) erlitt am 8. März die verheerendste Niederlage ihrer Geschichte, obwohl sie 63 Prozent der Stimmen und 140 von insgesamt 222 Sitzen erhielt. Bei den vorherigen Wahlen erreichte sie mit 199 von 219 Sitzen noch 91 Prozent. Die BN hat also nicht nur die psychologisch bedeutsame und für Verfassungsänderungen erforderliche Zweidrittelmehrheit verloren. Fortan muss sie sich im Parlament mit 82 Oppositionellen auseinandersetzen. Zudem muss die BN fünf der 16 Bundesstaaten ihren politischen Gegnern überlassen. Darauf war nicht mal die Opposition gefasst. Doch statt Siegesfeiern zu veranstalten, mahnen Jeff Ooi und seine Kollegen vorsichthalber lieber zur Ruhe.
Das Wahlergebnis ist umso erstaunlicher, da die BN tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Insgesamt gehören der Regierungskoalition 13 Parteien an, die das südostasiatische Land nach Regionen, Ethnien und politischen Konzepten unter sich aufgeteilt haben. Allein die Pertubuhan Kebangsaan Melayu Bersatu ("United Malays National Organisation", UMNO) hat 3,2 Millionen Mitglieder. Hinzu kommen diverse Organisationen und Institutionen, die politisch oder finanziell insbesondere von der UMNO abhängig sind. Das reicht von Grundschulen über Gewerkschaften bis zu den Massenmedien. Dadurch ist die Regierungskoalition, die bis 1973 schlichtweg "Alliance" genannt wurde, schon seit mehr als 50 Jahren an der Macht. Zuvor war der malaiische Archipel der Britischen Ostindien-Kompanie unterstellt.
Besonders schwer wiegt, dass die BN ausgerechnet bei den Malai viele Stimmen verloren hat. Immerhin machen ihre Stammwähler 58 Prozent der 25 Millionen Einwohner Malaysias aus. Doch viele "Bumiputera" sind mit der Politik der letzten vier Jahre unzufrieden. Laut Internationalem Währungsfond nahm das Wirtschaftswachstum von 7,2 auf 5,6 Prozent ab. Gleichzeitig stieg die Inflation von 1,1 auf 2,4 Prozent. Insbesondere der Kraftstoff ist teurer geworden. Außerdem soll die Kriminalitätsrate um 45 Prozent gestiegen sein, die Korruptionsrate sogar um 70 Prozent.
Auch unter den Chinesen, die mit 27 Prozent die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden, hat die BN viele Stimmen eingebüßt. Die Hakka und Kantonesen sind traditionell stark in Handel und Gewerbe vertreten. Aber sie sind keine Muslime, sondern Atheisten, Buddhisten oder Christen. Darum empfinden sie die wiederkehrenden Rufe nach Einführung der Scharia als Bedrohung. Bereits im Vorfeld war abzusehen, dass sich viele Inder von der BN abkehren. Die Tamilen machen gerade mal acht Prozent der heterogenen Gesellschaft aus. Viele davon fühlen sich bereits seit 1970 benachteiligt. Damals wurde nach Straßenschlachten eine "neue Wirtschaftspolitik" eingeführt, die Malaien bei Hochschulen, Stellen und Ausschreibungen bevorzugt. Davon sind logischerweise auch andere Minderheiten betroffen. Doch mangels Kapital können die Inder die Benachteiligungen kaum kompensieren.
Dass ausgerechnet bei diesen Wahlen die BN abgestraft wird, ist dem ehemaligen stellvertretenden Premierminister Anwar Ibrahim zu verdanken, weil er drei Oppositionsparteien zu einem Bündnis überredet hat. Bislang lagen die Parti Keadilan Rakyat (PKR), Democratic Action Party (DAP) und Parti Islam SeMalaysia (PAS) im Clinch miteinander. Dabei durfte der Politprofi bei den Wahlen gar nicht kandidieren, weil er 1999 wegen Korruption und Homosexualität zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden war, nachdem er sich mit Mahathir Mohamad zerstritten hatte.
Jener "Dr. M." spielte auch bei den diesjährigen Wahlen eine große Rolle. Schließlich regierte er Malaysia 22 Jahre lang, übrigens recht autoritär, und installierte 2003 als seinen Nachfolger den amtierenden Premierminister Abdullah Badawi. Doch haben sie sich zwischenzeitlich überworfen.
Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss von Internetbloggern wie Jeff Ooi. Der 51-Jährige hat Anfang 2003 sein Blog "Screenshot" begonnen und durch kleinere Enthüllungen auf sich aufmerksam gemacht. Nun hat er für die DAP einen Wahlbezirk gewonnen, und dies ist auch zwei weiteren Internetbloggern geglückt. Mittlerweile gibt es in Malaysia mehr als 100 soziopolitische Weblogs, viele davon gestalten ehemalige Journalisten. Deshalb konstatieren Experten wie der CEO Premesh Chandran von Malaysiakini.com: "Die alternativen Medien haben das Medienmonopol der Regierung gebrochen."
Die Gewinnerin der Wahlen in Malaysia ist vor allem die Demokratie. Immerhin wird grundsätzliche Kritik nicht mehr nur im Internet, sondern fortan auch im Parlament geübt. Für viele Bürger gibt es gar eine Alternative zur BN. Das "Comeback des Jahrzehnts" hat der Politprofi Anwar Ibrahim geschafft, der ab Mitte April wieder ein Mandat übernehmen darf. Verlierer ist der amtierende Premierminister und UMNO-Präsident Abdullah Badawi.
Einige Konsequenzen sind schon absehbar. So wird kurzfristig ein Rückgang der Investitionen befürchtet. Zumindest ist deswegen der Kuala Lumpur Stock Exchange Composite am Montag vergangener Woche um fast zehn Prozent eingebrochen. Mittelfristig werden vor allem innenpolitische Themen die Agenda bestimmen, insbesondere die Lebenshaltungskosten, die Kriminalität sowie die "neue Wirtschaftspolitik".
Überdies lassen sich Schlussfolgerungen ziehen, die auch auf andere asiatische Länder wie Singapur oder sogar China übertragbar sind: Je heterogener die Bevölkerung, umso mehr Gruppen müssen die Parteien ansprechen. Selbst in Einparteienherrschaften finden Grabenkämpfe statt. Driften die Lager zu weit auseinander, bekommt die Opposition Zulauf. Voraussetzung ist jedoch, dass sich die Oppositionellen nicht gegenseitig zerfleischen und das Internet für sich zu nutzen wissen.
Bislang ist der angebliche "politische Tsunami" also erst eine große Welle. Möglicherweise kommt sie aber gerade erst ins Rollen. Der Internetblogger Jeff Ooi beschwört bereits seine Anhänger: "Die Vorbereitungen für die Wahlen 2013 haben gestern begonnen. Bleibt dabei."