EUROPAPARLAMENT
In ihren Anfängen hatte die Volksvertretung nur geringen Einfluss. 50 Jahre nach ihrer Gründung wird sie ein zunehmend wichtiger Machtfaktor
Es ist die Nacht der Entscheidung im Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel. Sämtliche Journalisten im Pressesaal drängen sich um einen einzelnen Mann. Dieser bringt heiß erwartete Informationen: Details aus den Verhandlungen über den neuen EU-Reformvertrag. "Wer ist das?" fragt eine tschechische Radioreporterin, die in der Menge nichts mehr sieht. "Ein deutscher Minister", raunt ihre Kollegin zurück. Es ist Mitte Juni 2007, Deutschland leitet als EU-Präsidentschaft den historischen Reformgipfel. Und nein, der Mann ist kein deutscher Minister. Ein Reporter räumt den Irrtum eilig aus: Der Politiker, der das Scheinwerferlicht sichtlich genießt, ist Jo Leinen (SPD), der Vorsitzende des Verfassungsausschusses im Europaparlament.
Auch wenn die wahren Protagonisten des Gipfels die Staats- und Regierungschefs im streng abgeschirmten Sitzungsbereich sind - der Auftritt Leinens und anderer Abge-ordneter symbolisiert, wie wichtig das EU-Parlament geworden ist. Aus kaum einem Entscheidungs- oder Beratungsprozess in Brüssel ist es mehr wegzudenken. Der neue Reformvertrag - der sich neun Monate nach dem Gipfel in der Ratifizierungsphase be-findet - ändert daran nichts, im Gegenteil.
Am 19. März 2008 feiert das EU-Parlament sein 50-jähriges Bestehen und der neue Grundlagenvertrag ist einer der Glanzpunk-te seiner Geschichte. "Über fast 100 Prozent aller Gesetze wird das Parlament mit den Regierungen künftig gleichberechtigt entscheiden", erklärt Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (CDU) stolz. Eine ech-te Neuerung: "Bisher liegt die Quote bei 75 Prozent."
Gegründet wurde das Europaparlament 1958 als "Europäische Parlamentarische Versammlung". Gerade einmal 142 Abgeordnete umfasste es, die aus den sechs Gründungsstaaten der Gemeinschaft stammten (Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg). Die Mitglieder wurden von den nationalen Parlamenten aus ihren eigenen Reihen bestimmt.
Lange Zeit hatte die Volksvertretung nur beratende Befugnisse. Bis 1979 sollte es dauern, bis das EP zum ersten Mal direkt gewählt wurde. Ein wichtiges Zugeständnis wurde dem Gremium 1971 gemacht: Es durfte sich an der Verabschiedung des Haushalts beteiligen und erhielt damit bedeutende legislative Kompetenzen. "Die Geschichte des Europaparlaments ist beeindruckend", sagt die Analystin Sara Wagemann vom unabhängigen "European Policy Centre" (EPC) in Brüssel. Markiert wird sie durch mehrere große EU-Reformen: die Einheitliche Europäische Akte (1986), die Verträge von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2001). Mit jedem Vertrag wurden die Befugnisse des Parlaments er-weitert. Eine echte politische Kontrollin-stanz wurde die Volksvertretung spätestens in dem Moment, als sie bei der Zusammen-setzung der EU-Kommission mitreden durfte. Mit einem politischen Paukenschlag machte das EU-Parlament 1999 sein neues Selbstbewusstsein klar. Es traf das Kommissionskollegium unter dem Luxemburger Jacques Santer. Das Parlament hatte einen Sachverständigen-Ausschuss eingesetzt, der dem Verdacht auf Betrug und Missstände in der Verwaltung nachging. Die Ergebnisse waren vernichtend: Am Ende reichte die gesamte Kommission ihren Rücktritt ein.
Auch dem aktuellen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso aus Portugal machte das Parlament 2004 einen Strich durch die Rechnung. Barroso hatte den Italiener Rocco Buttiglione als Innenkommissar vorgeschlagen. Der italienische Politiker hatte während seiner Anhörung im EP unter anderem erklärt, dass er Homosexualität für eine Sünde halte. Unmissverständlich machten die Abgeordneten klar, dass sie die Liste der Kommissare nicht billigen würden. Schließlich setzte Barroso statt Buttiglione dessen Landsmann Franco Frattini ein.
Öffentlichkeitswirksam waren auch die Un-tersuchungsausschüsse des EP. 1996 forsch-te ein Ausschuss nach den Verantwortlichen der BSE-Krise, 2001 warnte ein weiterer vor Wirtschaftsspionage durch US- und andere Firmen. 2006 beleuchtete ein Ausschuss die Affäre um geheime CIA-Gefangenentransporte durch Europa. Auch die Bundesregierung kam dabei in Erklärungsnot.
Das Europaparlament - ein Musterbeispiel parlamentarischer Kultur also? Nach wie vor gebe es neben den Errungenschaften auch erhebliche Defizite, stellen Beobachter und Beteiligte übereinstimmend fest. Parlamentspräsident Pöttering selbst verweist darauf, dass die Möglichkeiten des Parlaments nach wie vor begrenzt seien, wenn es um Bereiche wie die Bereitstellung von Haushaltsmitteln oder die Außen- und Militärpolitik gehe. Analystin Wagemann spricht die geringe Bürgerbeteiligung bei den Europawahlen an. "Die EU-Debatten müssen lauter, sichtbarer und politischer werden", sagt sie und fügt hinzu: "Es gibt ein Kommunikationsproblem auf EU-Seite."
Eine Eurobarometer-Umfrage förderte kürz-lich Bedenkliches zutage: Nur 13 Prozent aller Deutschen wissen, dass die nächsten Wahlen zum Europaparlament 2009 stattfinden. 68 Prozent geben an, über die Aktivitäten des EP schlecht informiert zu sein. Jeder Zweite kann sich nicht erinnern, in jüngerer Vergangenheit etwas über das EP in den Medien gesehen zu haben. Im EU-Durchschnitt schauen die Statistiken nicht viel besser aus.
Immerhin halten 79 Prozent aller Bundes-bürger das EP für demokratisch. Knapp die Hälfte würde es gerne sehen, wenn es eine größere Rolle spielen würde. 40 Prozent glauben, dass das Parlament bereits jetzt die wichtigste EU-Institution sei, während nur 16 Prozent dasselbe von der EU-Kommission vermuten. Die Bürger wurden im Jahr 2007 befragt - nicht enthalten sind also mögliche Mei-nungswechsel, die der jüngst erstellte Audit-Report über Unregelmäßigkeiten bei den Büro-Zulagen für Abgeordnete erzeugt haben könnte. Der interne Bericht hatte ergeben, dass einige Parlamentarier die Zulage in Höhe von 15.500 Euro monatlich in Teilen zweckentfremdet hatten.
Das Parlament nimmt indessen die 50-Jahres-Feier zum Anlass, auf seine Erfolge zu verweisen. "Das EP macht das Alltagsleben der Bürger einfacher", ist sich Pöttering sicher. Stolz ist er unter anderem auf die Roaming-Verordnung, die 2007 Handy-Gespräche im Ausland billiger machte. Auch die Schwarze Liste unsicherer Fluglinien sieht er als wesentlichen Verdienst an. Außerdem verweist er auf die symbolträchtige Dienstleistungsrichtlinie, die sowohl Wachstum als auch sozialen Schutz bringen soll. Beim 50. Geburtstag am 12. März in Straßburg gab es neben einer große Torte aber auch eine Mahnung an die Mitgliedstaaten: "Das EU-Parlament darf nicht als Prügelknabe für nationales Versagen betrachtet werden", erklärte Pöttering. Für den Bundestag nahm dessen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (CSU) an den Feierlichkeiten teil. "Das EP ist ein Jubilar, der stolz auf die letzten 50 Jahre zurückblicken kann", so Hasselfeldt. "Das Europaparlament hat sich in den letzten Jahrzehnten so dynamisch entwickelt wie kaum ein anderes europäisches Organ. Gerade als Parlamentarierin freue ich mich, dass das EP mit dem Vertrag von Lissabon neben dem Rat jetzt wirklich ein gleichberechtigter Partner bei der Gesetzgebung geworden ist." Auch die Analystin Hagemann glaubt an die Zukunft des EP. "Das EU-Parlament ist, betrachtet man sein Gründungsdatum, immer noch ein junges Parlament", sagt Hagemann. Sein Profil werde immer professioneller, seine Mitglieder dynamischer. "Hast du einen Opa, schick? ihn nach Europa" -dieser deutsche Frotzelspruch der 70er Jahre gehört endgültig der Vergangenheit an.