Versicherung
Die langfristige Finanzierung bleibt ungelöst. Kurzfristig gibt es mehr Geld und mehr Transparenz
Das schwierigste Feld beim Thema Pflege haben Union und SPD trotz gegenteiliger Ankündigung im Koalitionsvertrag ausgeklammert. Zu weit liegen die Vorstellungen der Koalitionäre auseinander, wie die Finanzierung der Pflegeversicherung langfristig zu sichern ist. Ob die Reise in Richtung kapitalgedecktes Prämienmodell (CDU/CSU) oder Bürgerversicherung (SPD) geht, wird erst bei anderen Mehrheitsverhältnissen im Parlament entschieden werden. Dennoch hat sich die Koaliton mit dem am 14. März im Bundestag verabschiedeten "Pflege-Weiterentwicklungsgesetz" ( 16/7439, 16/7486, 16/8525) auch finanziell ein wenig Luft verschafft.
Das liegt in erster Linie an der Beitragssatzanhebung um 0,25 Prozentpunkte zum 1. Juli 2008. Diese soll zu jährlichen Mehreinnahmen von rund 2,5 Milliarden Euro führen und die Finanzierung der jüngsten Säule des Sozialsystems inklusive einiger Leistungsausweitungen bis 2014 gewährleisten. Das Beitragsniveau insgesamt steigt dennoch nicht über das Niveau von Ende 2007, da der Beitragssatz in der Arbeitslosenversicherung zum Jahresanfang 2008 um 0,3 Punkte abgesenkt wurde.
Der Beitragssatz für die rund 70 Millionen Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung erhöht sich somit im Sommer für Kinderlose auf 2,2 Prozent. Bei denjenigen, die Kinder haben, werden künftig 1,95 Prozent von Bruttogehalt oder Rente abgezogen. Der Unterschied zwischen Kinderlosen und Eltern wird bereits seit Anfang 2005 gemacht.
Erstmals seit der Einführung der sozialen Pflegeversicherung im Jahr 1995 bekommen Pflegebedürftige mehr Geld. Die Sätze sollen in drei Schritten erhöht werden. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ordnet Pflegebedürftige in drei Stufen ein: Stufe eins (erheblich pflegebedürftig - Hilfebedarf mindestens 90 Minuten pro Tag), Stufe zwei (schwer pflegebedürftig - Hilfebedarf mindestens drei Stunden pro Tag) und Stufe drei (schwerst pflegebedürftig - Hilfebedarf mindestens fünf Stunden pro Tag).
Im ambulanten Bereich - betroffen sind rund 1,4 Millionen Pflegebedürftige - steigen nach Willen der Koalition die Leistungen in Pflegestufe eins von heute monatlich 384 Euro bis zum Jahr 2012 auf 450 Euro, in Pflegestufe zwei von 921 auf 1.100 Euro und in der Pflegestufe drei von 1.432 auf 1.550 Euro. Es ist geplant, beginnend im Jahr 2015, die Sätze unter Berücksichtigung der Inflation alle drei Jahre anzupassen. Auch das Pflegegeld, das Personen erhalten, die Verwandte zu Hause pflegen, wird angehoben - um bis zu 35 Euro bis zum Jahr 2012. Bei den stationären Pflegesätzen - betroffen sind rund 700.000 Bedürftige - soll die Stufe drei angehoben werden: von 1.432 auf 1.550 Euro und von 1.688 auf 1.918 Euro in Härtefällen. Die Stufen eins und zwei bleiben unverändert.
Spürbare Verbesserungen sind auch für Demenzkranke, psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen vorgesehen. Diese erhalten jährlich zwischen 1.200 Euro bei geringem Betreuungsbedarf und 2.400 Euro bei hohem Betreuungsbedarf statt bisher 460 Euro. Das gilt neuerdings auch für solche Betroffenen, die körperlich noch fit sind. Auch Demenzkranke, die in Pflegeheimen leben, werden bedacht. Für sie sollen neue Betreuungskräfte eingestellt werden, um den Betroffenen zu helfen, ihren Alltag zu meistern. Allerdings scheint fraglich, ob das Ziel, für je 25 Bewohner einen zusätzlichen Betreuungsassistenten einzustellen, mit den eingeplanten 200 Millionen Euro zu erreichen ist.
Die wohl gravierendste der mit der Reform verbundenen Änderungen wird es bei der Kontrolle von Pflegeheimen geben. Bis Ende 2010 soll jede Einrichtung mindestens ein Mal und ab 2011 jährlich in der Regel unangemeldet vom MDK überprüft werden. Bislang gab es durchschnittlich eine, oftmals angekündigte, Prüfung in fünf Jahren. Stärker berücksichtigt werden sollen nunmehr der Pflegezustand und die Zufriedenheit der Pflegebedürftigen. Zudem müssen die Ergebnisse im Internet veröffentlicht werden. An "gut sichtbarer Stelle, etwa im Eingangsbereich der Einrichtung" sollen ab 2009 eine Zusammenfassung der aktuellen Prüfergebnisse sowie eine Bewertung in Form einer Ampel oder mit Sternen erfolgen. Pflegeeinrichtungen können eine Wiederholungsprüfung veranlassen, um zu zeigen, dass wesentliche Mängel abgestellt worden sind.
Auch ambulante Dienste müssen die Prüfergebnisse "in gut verständlicher Sprache" veröffentlichen. Bislang wurden die Prüfergebnisse nur anonymisiert veröffentlicht, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen konnten also nicht nachvollziehen, wie ihre Einrichtung abgeschnitten hat.
Für die Dauer von bis zu sechs Monaten wird für die Pflege von Angehörigen ein Anspruch auf Arbeitsfreistellung eingeführt. Voraussetzung ist, dass das Unternehmen mehr als 15 Beschäftigte hat. Gehalt wird für die Pflegezeit nicht gezahlt, wohl aber Beiträge zur Sozialversicherung. Außerdem können Beschäftigte einen zehntägigen Urlaub nehmen, um in akuten Fällen Pflege zu organisieren. Anders als von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) geplant, ist auch dieser unbezahlt.
Bei dem in der Koalition lange umstrittenen Punkt der Pflegestützpunkte sieht der geänderte Gesetzentwurf nun vor, dass diese auf Initiative eines Landes eingerichtet werden können. Diese sind von den Pflegekassen ein halbes Jahr nach Antragstellung zu installieren. In den Stützpunkten sollen Bürger Informationen über Pflegeleistungen, -einrichtungen etc. erhalten. Außerdem können dort die Anträge auf Pflege gestellt werden. Über diese müssen die Pflegekassen schneller als bisher entscheiden, bei Schwerkranken innerhalb von einer Woche, ansonsten innerhalb von fünf Wochen.
Vorgesehen ist eine Anschubfinanzierung von bis zu 45.000 Euro pro Stützpunkt. Die Förderung kann um bis zu 5.000 Euro erhöht werden, wenn Mitglieder von Selbsthilfegruppen und Ehrenamtliche einbezogen werden. Das Bundesversicherungsamt entnimmt die Fördermittel aus dem Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung. Das Gesamtvolumen der Anschubfinanzierung soll 60 Millionen Euro betragen. Ursprünglich wollte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bundesweit 4.000 dieser Stützpunkte einrichten, jetzt sollen es zwischen 1.200 bis 1.500 werden.
Der Spitzenverband Bund der Pflegekassen soll Empfehlungen zu Anzahl und Qualifikation der Pflegeberater geben. Verwiesen wird auf internationale Erfahrungen, wonach etwa 100 zu betreuende pflegebedürftige Menschen je Pflegeberater angemessen seien. Die Pflegekassen müssen von 2009 an ihren pflegebedürftigen Versicherten ein Fallmanagement anbieten. Ist ein Pflegestützpunkt vorhanden, wird der Berater dort tätig sein.
Ferner soll sich gute Pflege und Rehabilitation für Heime künftig finanziell auszahlen. Sie erhalten einmalig 1.536 Euro für diejenigen Bewohner, die in eine niedrigere Pflegestufe eingruppiert werden können. Außerdem können Bewohner von Senioren-Wohngemeinschaften ihre Pflegeleistungen künftig zusammenlegen.
In den nächsten Jahrzehnten wird die Zahl der Älteren und damit auch der Pflegebedürftigen stark ansteigen. Nach dem jüngsten Pflegebericht der Bundesregierung ( 16/7772) werden im Jahr 2030 rund 3,1 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein. Da gleichzeitig die Zahl der Jüngeren, die mit ihren Beiträgen die Pflege finanzieren, deutlich zurückgeht, wird es bereits in der nächsten Legislaturperiode die nächste Reform geben müssen, die die Finanzierungsfrage anpackt.
Im Ordner "Zur Wiedervorlage" dürften deshalb die Oppositionsfraktionen ihre jetzt abgelehnten Anträge abheften, die allesamt im Kern die zukünftige Finanzierung behandeln. Die FDP ( 16/7491, 16/8528) plädiert dafür, die Versicherung auf ein kapitalgedecktes System umzustellen. Dieses müsse mit einem steuerfinanzierten sozialen Ausgleich verbunden werden. Dagegen tritt Die Linke ( 16/7472, 16/8527) für die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung ein. Die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung solle aufgehoben werden. Die Grünen ( 16/7136, 16/8529) machen sich dafür stark, die gesetzliche und die private Pflegeversicherung in einer Bürgerversicherung zusammenzufassen. Ferner verlangen sie eine Demografiereserve. Monika Pilath z