Irak
5 Jahre nach dem Einmarsch der USA ist der politische Prozess im Ansatz stecken geblieben
In welchem Zustand sich der Irak fünf Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner und Briten befindet, zeigt das tragische Ereignis von Anfang März. Als der Vorsitzende der Journalistengewerkschaft sein Büro im Zentrum von Bagdad verließ um zu einer Veranstaltung zu fahren, warteten seine Mörder auf ihn und schossen Gewehrsalven ab. Drei Tage später erlag Shihab al-Temimi seinen Verletzungen. Seine kritischen Artikel über die zunehmende religiöse Gewalt in seinem Land brachten ihm den Tod. Politiker und Regierungsmitglieder hatten ihm versprochen, Journalisten künftig besser vor Mordanschlägen zu schützen, nachdem er im Jahre 2005 die ersten Morddrohungen bekam und sich von seinem Posten vorübergehend zurückzog.
Wie die Journalistengewerkschaft anlässlich des Todes ihres Vorsitzenden bekannt gab, seien in den fünf vergangenen Jahren insgesamt 270 irakische Journalisten ermordet worden. Mit Abstand ist das Land zwischen Euphrat und Tigris derzeit die gefährlichste Arbeitsstelle für Medienvertreter. Das Innenministerium in Bagdad reagierte prompt und publizierte einen Erlass, wonach Journalisten künftig eine Waffe tragen dürfen. Blanker Zynismus oder pure Verzweiflung? Es wird nicht mehr lange dauern, bis private Sicherheitsfirmen, die es zu Dutzenden im Irak gibt, Schießtraining für Medienvertreter anbieten.
Dass der Staat seine Bürger nicht schützen kann, erfährt man jeden Tag im Irak. Nahezu täglich gibt es Bombenanschläge, Entführungen und Leichenfunde. Konzentrierte sich der Terror in den vergangenen zwei Jahren hauptsächlich auf die Hauptstadt und die sie umgebenden Provinzen Anbar und Dijala, so breitet er sich jetzt mehr und mehr auf das ganze Land aus: Mosul und Kirkuk im Norden, Diwanija und Basra im Süden. Nachdem die Zahl der tödlichen Anschläge in den vergangenen drei Monaten des Jahres 2007 um fast die Hälfte zurückging, verzeichnete der Februar 2008 wieder einen Anstieg um 30 Prozent. "Die einzigen Menschen, die im heutigen Irak sicher sind, gehören zu Al-Qaida, den sunnitischen Aufständischen oder zur Schiitenmiliz von Moktada al-Sadr", erkannte Paul Craig Roberts, Berater des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, nach einem Besuch im Irak. "Der Staat scheint machtlos, der flächendeckenden Welle der Gewalt entgegenzutreten."
Der Staat, das sind die irakische Regierung und die Amerikaner. Denn ohne Zustimmung Washingtons läuft im Zweistromland nichts. Schon Paul Bremer, US-Administrator nach dem Sturz Saddam Husseins, hat im Sommer 2003 nach der Ernennung des 25-köpfigen Regierungsrates, die Schlüsselpositionen in den Ministerien mit Amerikanern besetzt. Das ist bis heute so geblieben. Mindestens ein hochrangiger US-Berater sitzt in jedem Ressort.
Als bei Rajaa Khuzai im Juli 2003 das Telefon klingelte und ein Paul Bremer sich meldete, traute sie ihren Ohren nicht. Die 60-jährige Schiitin war damals Direktorin der Kinderklinik in Diwanijah, ihrer Heimatstadt, 150 Kilometer südlich von Bagdad. Der Amerikaner bat die Ärztin, eine von drei Frauen des Regierungsrates zu werden, der ersten von drei Übergangsregierungen im neuen Irak. "Schon damals wurde darauf geachtet, wer Schiit, Sunnit oder Christ, Araber oder Kurde war", erinnert sich Rajaa. "Wir waren verblüfft!" Nie sei dies eine Diskussion im Irak gewesen. Plötzlich wurde es wichtig. Erstmals stellten die Schiiten, deren Bevölkerungsanteil auf bis zu zwei Drittel geschätzt wird, mit 13 von 25 Vertretern eine Mehrheit in einem irakischen Führungsgremium.
Die Parlamentswahlen zwei Jahre später bestätigten dann im Prinzip den Grundstein, den Paul Bremer und seine Administration gelegt hatten. "Doch die Spannungen im Regierungsrat waren damals ganz andere", erzählt Frau Khuzai aus ihrer Zeit als Politikerin. "Die aus dem Exil zurückgekehrten nannten uns daheimgebliebene Saddamisten". Tatsächlich gab es anfänglich eine tiefe Kluft zwischen denen, die im Saddam-Regime verblieben und denjenigen, die ins Ausland gingen. Die Masse der Bevölkerung betrachtet auch heute noch die ehemaligen Exilanten als "nicht zu uns gehörend". Es ist daher nennenswert, dass alle bisherigen Premierminister aus dem Exil zurückkamen: Ijad Alawi aus England, Ibrahim Jafari aus dem Iran, Nuri al-Maliki, der amtierende Regierungschef, aus Syrien. Doch der Terror, der bald nach der Ernennung des Regierungsrates einsetzte und die ihm folgenden ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen, ließen diese anfängliche Konfrontation schnell verblassen.
Mit einer rasenden Geschwindigkeit hätten die Amerikaner ihren Zeitplan zur Demokratie im Irak durchgepeitscht, berichtet Rajaa Khuzai weiter. "Uns wurde manchmal ganz schwindelig." Auf Bitten der Mehrheit der Ratsmitglieder, mehr Zeit für die Transmission von der Diktatur zur Demokratie zu bekommen, ernteten sie nur Kopfschütteln. Die US-Administration setzte alles daran, die ersten "freien" Wahlen im Januar 2005 durchzuführen, "koste es was es wolle". Danach wurde innerhalb weniger Monate die Verfassung erarbeitet, im Oktober zur Volksabstimmung gegeben und im Dezember abermals Parlamentswahlen abgehalten. Warum diese Eile? "Ich denke, man wollte der Welt vorführen, dass im Irak tatsächlich die Demokratie eingeführt wird", vermutet Rajaa Khuzai über die Hintergründe. Es wurde als Erfolg gefeiert, dass so viele Iraker zu den Wahlurnen gingen, trotz Bombendrohungen. "Dabei herrschte bei uns unter Saddam Wahlpflicht", gibt die Medizinerin zu bedenken. Die Leute wären regelrecht zu den Urnen getrieben worden, um ein Traumergebnis für den Diktator zu erreichen. "Das hatten wir im Blut, dass wir wählen gehen müssen, wenngleich wir eigentlich keine wirkliche Wahl hatten." Es gab immer nur einen Kandidaten. Dementsprechend verwirrt seien die Wahlberechtigten gewesen, als sie plötzlich über 100 Allianzen, Bündnisse und Gruppierungen auf dem Wahlzettel entdeckten. Sie machten dann ihr Kreuzchen gemäß den Empfehlungen der schiitischen und sunnitischen Kleriker oder den Kurdenführern. Ein neuer "Führerkult" entstand. Von da an gab es nicht mehr nur einen, wie vormals Saddam Hussein, der den Takt vorgab, sondern mehrere. Die Spaltung zwischen Religionen und Ethnien vertiefte sich.
Abdullah Al-Jubori muss einen ganz besonderen Schutzengel haben. Seitdem der stämmige Iraker nach dem Sturz des Diktators aus dem englischen Exil in sein Heimatland zurückkehrte, ist er beständig in den Schlagzeilen. Zunächst, als er Gouverneur von Dijala wurde, eine der 18 irakischen Provinzen im Nordosten von Bagdad. Und danach immer wieder, als versucht wurde ihn umzubringen. 14 Mordversuche hat der 49-Jährige mittlerweile überlebt. Fünf seiner Leibwächter und drei Fahrer haben die Anschläge auf ihren Chef mit dem Leben bezahlen müssen. Es grenzte schon an ein Wunder, als im Frühjahr 2006 eine Autobombe neben seinem Wagen explodierte und Al-Jubori unversehrt aus dem brennenden Auto stieg. "Verstehen sie jetzt, warum ich eine schizophrene Affinität zu meiner Provinz habe?"
Dijala ist zurzeit die Problemprovinz Nummer eins. Direkt an der Grenze zu Iran gelegen, versammelt sich hier alles, was das Land zu bieten hat: Araber, Kurden, Assyrer, Iraner, Turkmenen. Dazu Angehörige aller Religionen - Sunniten, Schiiten, Christen - die in ihrer Mischung sonst nur noch in Bagdad zu finden sind. Jubori sagt, die Mehrheit der Einwohner seien sunnitische Araber. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. In Dijala herrscht ein Kommen und Gehen. Iraker iranischen Ursprungs, die von Saddam Hussein während des Krieges gegen das Nachbarland in den 80er-Jahren vertrieben wurden, kommen zu Tausenden zurück. Al-Qaida und ihr nahestehende Terrororganisationen haben sich in Dijala eingenistet, seitdem sie aus der Nachbarprovinz Anbar durch diverse Militäroperationen amerikanischer und irakischer Soldaten vertrieben wurden. Al-Qaidas erster Anführer, Abu Mussab Al-Zarkawi, wurde in Dijala aufgespürt und getötet. "Dijala ist Klein-Irak", sagte Al-Jubori kurz nach seinem Amtsantritt im Herbst 2003. "Wenn wir es hier nicht schaffen, geht es mit dem ganzen Land bergab." Sie haben es nicht geschafft, und das Land ist am Boden.
Der sunnitische Arzt Al-Jubori musste inzwischen seinen Gouverneursstuhl für einen schiitischen Beamten räumen. Die ersten Parlamentswahlen im Januar 2005, die für Dijala auch ein Regionalparlament hervorbringen sollten, wurden von der Mehrheit der Sunniten boykottiert und bescherten somit den Schiiten einen überwältigenden Sieg. Jubori setzte auf die laut Verfassung angesetzten nächsten Kommunal- und Regionalwahlen, die die jetzige, für vier Jahre gewählte Regierung organisieren sollte. Doch diese sagt immer wieder ab - aus Sicherheitsgründen, so die offizielle Begründung. "Alle meine Bemühungen, Strukturen für eine kommunale und regionale Selbstverwaltung aufzubauen, sind vorerst gescheitert."
Wie in Dijala, so sieht es auch in anderen Provinzen aus. Selbst im von Schiiten dominierten Südirak sind Wahlen zum Stadtparlament in Basra oder in den Kommunen um Diwanijah immer wieder verschoben worden. Maliki, der schiitische Premier, befürchte einen Machtverlust, mutmaßt Al-Jubori, "seine Regierung ist so unbeliebt wie nie". Nun haben allerdings die Amerikaner erkannt, dass sie den politischen Prozess vorantreiben müssen. Ein Dringlichkeitskatalog mit 18 Punkten soll von der Nationalversammlung in Bagdad in den nächsten Monaten in Angriff genommen werden. Nummer zwei auf der Liste sind Regional- und Kommunalwahlen. Besser spät als nie?