Deutschland
Günther Lachmanns anregender Roadtrip zu den Orten des demografischen Wandels
Der Besucher aus der Zukunft stand eines Tages mitten auf der Straße: Ein Elch mit mächtigem Geweih. Er spazierte durch ein Gewerbegebiet in Mecklenburg-Vorpommern; auch in anderen ostdeutschen Regionen soll er schon aufgetaucht sein. Normalerweise assoziiert man den Elch mit den skandinavischen Ländern oder Kanada und somit vor allem mit: Leere. Viel Natur und wenig Menschen.
Günther Lachmann hat die Elche zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, dafür umso mehr Ödnis: Er reiste in Deutschland "Von Not nach Elend" - es wurde ein Roadtrip durch die Leere. Das klingt irgendwie vertraut: Männer, die durchs Land ziehen und darüber ein Buch schreiben, haben in den vergangenen Jahren quasi ein eigenes Genre etabliert. Da war Wolfgang Büscher, der zu Fuß die Lande durchquerte, Roger Willemsen auf "Deutschlandreise", Axel Hackes "Deutschlandalbum", Wladimir Kaminer, der in "Abenteuer Deutschland" den Blick von außen wagte, oder Andreas Greve, der "in 80 Tagen" die bundesrepublikanische Grenze abfuhr. Allesamt Expeditionen in die Provinz, Versuche einer Zustandsbeschreibung des Landes, der Grundton immer irgendwo zwischen Melancholie und Nostalgie.
Jetzt also auch noch der "Welt"-Journalist Lachmann. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Dahin zu gehen, wo es weh tut, ist bei ihm das Motiv, nicht die Erkenntnis. Und genau das ist die Stärke des Buchs: Alle reden vom demografischen Wandel, der Vergreisung und Entleerung ganzer Landstriche, hier und da gibt es mal einen beschwörenden Zeitungstext, eine mahnende TV-Dokumentation. Sogar der Musikkabarettist Rainald Grebe besingt das Drama in seinen Länderhymnen, "Es gibt Länder, wo richtig was los ist", heißt es da etwa, "Und es gibt Brandenburg". Aber das sind alles Momentaufnahmen, meist über Menschenleere in Mecklenburg-Vorpommern oder Trostlosigkeit in Thüringen. Dass sich einer endlich ein vergleichendes Bild von der Lage der Nation verschafft, ist nur konsequent.
Das erste aufklärerische Moment des Buchs: In Vorpommern mögen zwar Elche und Wölfe ihre Bahnen ziehen, aber Gegenden, in denen sich bald nur noch Fuchs und Hase "gute Nacht" sagen, gibt es - entgegen der gängigen Klischees - auch in Niederbayern, Nordhessen und Nordrhein-Westfalen. Lachmann streift in seinen angenehm zwischen Reportage, Feature, Portrait und Tagebuch mäandernden Texten zwischen Ost und West, aber auch zwischen plattem Land und Metropolregionen wie dem Ruhrgebiet hin und her. Die Faktenlage der einzelnen Bundesländer schiebt er mit Tabellen und Grafiken im zweiten Teil des Buches hinterher.
Dass Lachmanns Reise ausgerechnet in Wiedenborstel beginnt, oben zwischen Nord- und Ostsee, gelegen in einem Naturschutzgebiet, ist elementar für seine Argumentation: Der Blick in einen Mikrokosmos fördert Grundsätzliches zutage. Wiedenborstel ist seit jeher eine Einöde und nicht erst seit neuestem Deutschlands kleinste registrierte Gemeinde. Der demografische Wandel wird hier letztlich nicht viel ändern. Sieben Bewohner hat die Kommune, die Bürgermeisterin ist gleichzeitig die Gutsbesitzerin. Seht her, soll das wohl heißen, wenn die Einwohnerzahlen schrumpfen, entstehen Machtmonopole, Wirtschaft und Politik lassen sich nicht mehr trennen. Vielmehr aber noch zeigt Lachmanns Erforschung dieser Welt im Kleinen: Die Einwohner von Wiedenborstel fühlen sich seit Generationen diesem Dorf verbunden. Hier kennen sie sich aus. Es ist Heimat im Sinne von Karl Jaspers, wie der Autor trefflich bemerkt: "Heimat ist dort, wo ich verstehe und verstanden werde."
Und da setzt der Teufelskreis ein: Wer nicht mehr verstanden wird, weil es nur noch Alte gibt, keine Infrastruktur, keine Arbeitsplätze, der versteht sie nicht mehr, seine Heimat - und geht woanders hin. Das bedeutet weniger Steuern, mehr Leerstand, sinkendes Image, weniger Investitionen. So dreht sich die Spirale weiter. Und zwar derart unbeirrt, dass Lachmann gleich im ersten Satz des Vorworts zur Sache kommt: "Deutschland stirbt. Und es stirbt vor allem dort, wo es heute noch ursprünglich ist und die Menschen sich ihre Eigenarten bewahrt haben. Deutschland stirbt einen leisen Tod, der langsam übers Land kriecht."
Die Endzeitstimmung muss ihn erfasst haben, als er mit seinem Auto durch die Wüstenei fuhr, depressive Dörfer, in denen "wie durch Neutronenbomben alles Leben ausgelöscht" scheint. Natürlich gibt es Hoffnung. Viele der Stadtplaner, Bürgermeister und Landtagsabgeordneten, die Lachmann unterwegs trifft, packen's an. Charmanterweise ist Lachmann dabei eher Beobachter als Besserwisser. Mit einem verwunderten Stirnrunzeln, scheint es, schildert er die Initiativen: Leere Gebäude werden durch Grünflächen ersetzt, die Porzellanstadt Wunsiedel entwirft sich nach dem Vorbild Sun City als altengerechte "Greisstadt Wunsiedel" neu, Duisburg angelte sich den Star-Architekten Norman Foster als Heilsbringer. Denn die Ruhrpott-Stadt hat eines erkannt: Ohne Image-Marketing kein Bevölkerungszuwachs.
Günther Lachmanns Fahrt wurde ergo auch zu einer Exkursion durch "Masterplan-Country". Und gerade dieser deutsche Aktionismus befeuert das Zynisch-Fatalistische des Buchs. Anregender und aufschlussreicher kann man die Apokalypse nicht beschreiben.
Von Not nach Elend. Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen.
Piper Verlag, München 2008; 280 S., 18 ¤