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Wie Beratung und Hilfe aus einer Hand funktionieren kann - das Beispiel Ingelheim
Eberhard Hünlich steht im Flur seines kleinen Hauses in Ingelheim und stützt sich auf einen Spazierstock. Seine Frau Liselotte ist zur Garderobe geeilt und hilft Christine Jacobi-Be- cker aus ihrem Mantel. "Wir wissen gar nicht, ob das so richtig ist, was wir hier machen", sagt der weißhaarige Mann. In der Kleinstadt bei Mainz treffen gerade Generationen aufeinander: Christine Jacobi-Becker ist 47 Jahre alt und diplomierte Sozialarbeiterin. Eberhard Hünlich ist schon lange in Rente. Der 82-Jährige und seine 77-jährige Frau brauchen Hilfe. Der Alltag funktioniert nicht mehr so, wie er sollte.
Vor einigen Wochen ist Herr Hünlich gestürzt, ist auf dem Rand der Badewanne mit den Rippen aufgeschlagen. Danach hat er 17 Nächte lang auf dem Fernsehsessel im Wohnzimmer geschlafen. Das Liegen im Bett habe ihm Schmerzen bereitet, erklärt seine Ehefrau. "Meine Frau hat schon viel mit mir zu tun", schmunzelt Eberhard Hünlich, der eine Krankheit hat, die das periphere Nervensystem befällt und den Namen Polyneuropathie trägt. Das medizinische Kauderwelsch geht dem Senior leicht über die Lippen. Er hat sich informiert, erklärt, wie schleichend seine Kontrolle über den Körper nachlässt. Nun wolle man sich erkundigen. Natürlich ganz unverbindlich. Vielleicht könne eine Haushaltshilfe kommen und die Gattin zeitweise entlasten. Mittlerweile haben das Ehepaar und Christine Jacobi-Becker an einem massiven runden Esstisch Platz genommen. Jacobi-Becker lehnt sich zurück und nickt. In der Hand hält sie eine blaue Mappe, die mit vielen Informationen zum Thema Pflege gefüllt ist. Die Blicke der Hünlichs ruhen auf der 47-Jährigen. Sie soll Wege aufzeigen und genau erläutern, wie eine Unterstützung im Haushalt aussehen könnte.
Termine wie bei Ehepaar Hünlich hat Christine Jacobi-Becker mehrere hundert pro Jahr. Sie ist eine von zwei Beschäftigten in der Beratungs- und Koordinierungsstelle (BeKo) im Landkreis Mainz-Bingen und ist für die rund 25.000 Einwohner von Ingelheim zuständig. Die BeKo in Rheinland-Pfalz soll pflegebedürftigen Menschen Rat und Hilfe geben. Im Januar dieses Jahres wurde die BeKo Ingelheim zum Pilotpflegestützpunkt ausgebaut. Beispielhaft sollen dort der Aufbau und die Vernetzung aller pflegerischen Angebote erprobt werden. Jacobi-Becker setzt in der Praxis etwas um, über das die Große Koalition in Berlin lange gestritten hat. Im Februar dann der Kompromiss: Wenn die Bundesländer Interesse haben, können sie Pflegestützpunkte einrichten. Ein halbes Jahr nachdem solche beantragt wurden, müssen die Kassen handeln und sie installieren. Einen Zwang für die Länder, wie von der SPD ursprünglich gefordert, gibt es allerdings nicht.
Die Union hatte die Beratungsstellen mit der Begründung abgelehnt, Geld werde damit an der falschen Stelle ausgegeben. Bislang waren 45.000 Euro je Stützpunkt vorgesehen, insgesamt wären das 180 Millionen Euro gewesen, falls die Länder zur Einrichtung verpflichtet worden wären. Bestehende Angebote würden dadurch gefährdet, so die Union. Das Geld müsse vielmehr in die Betreuung von Demenzkranken fließen. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) wollte bundesweit 4.000 dieser Stützpunkte einrichten, jetzt sollen es zwischen 1.200 und 1.500 werden. In Ingelheim vernetzt Christine Jacobi-Becker schon seit 1995 alle Angebote, die es in der Umgebung gibt. Damit erfüllt sie bereits seit 13 Jahren wesentliche Merkmale der heutigen Pflegestützpunkte. Nach dem Bundestag stimmte am 25. April auch der Bundesrat für die Pflegereform, die die Einrichtung der Pflegestützpunkte beinhaltet.
"Ihren Mann können Sie zum Staub wischen einteilen", sagt sie gerade bei Hünlichs und erntet damit das Gelächter des Ehepaares. Sie will Berührungsängste abbauen und ältere Menschen "dort abholen, wo sie stehen". Eberhard Hünlich hat kürzlich einen Lift für die Badewanne von seinem Hausarzt verschrieben bekommen. Dieser soll ihn und seine Frau entlasten. Die 77-Jährige lässt ihren Mann keine Minute aus den Augen, trägt ihm selbst das Wasserglas hinterher. Denn: "Die Angst vor einem Sturz geht immer mit", erklärt Liselotte Hünlich. Das sei schon sehr belastend. Einmal schon sei er mit einer Flasche in der Hand gefallen. Glücklicherweise gab es keine Scherben. "Ich kann noch nicht mal meine Knöpfe am Hemd alleine zumachen", sagt Eberhard Hünlich.
Dabei sieht er aus wie das blühende Leben. "Er wird unglaublich schnell braun", rechtfertigt Liselotte fast schon die gute optische Verfassung ihres Mannes. Das sei ein besonderes Problem der Krankheit, weiß auch Christine Jacobi-Becker. Ein Badewannenlift werde sein Leben gewiss erleichtern. "Aber sie müssen in die Bedienung eingewiesen werden", erklärt sie ruhig.
Eberhard und Liselotte Hünlich liegt einiges auf der Seele. Das merkt Jacobi-Becker schnell. Zuhören sei oft ihre erste Pflicht, erzählt sie später. "Ich habe an eine Haushaltshilfe gedacht, die ein- oder zwei Mal im Monat kommt und beim Fenster putzen und schweren Arbeiten hilft", sagt Liselotte Hünlich. "Alles andere kann ich noch gut alleine." Und wieder kramt Jacobi-Becker in ihrer blauen Mappe, sucht die Adresse eines ambulanten Pflegedienstes heraus. "Sie haben sich sehr vieles überlegt, das ist ja schon positiv", lobt sie das Ehepaar Hünlich.
Beratungen wie die von Jacobi-Becker leisten in Rheinland-Pfalz noch 134 weitere BeKo-Stellen. Sie können als Kontaktbörse zum Thema Pflege bezeichnet werden: Im Einzelfall werden Hilfen vermittelt, das Angebot koordiniert, das Ehrenamt einbezogen und auf Pflegekonferenzen informiert. Damit sind die wichtigsten Kriterien der geplanten Pflegestützpunkte bereits erfüllt. Hinzukommen soll, dass dort später auch Anträge auf Pflege gestellt werden können. Das Bundesgesundheitsministerium rechnet mit einem raschen Aufbau von Stützpunkten in Rheinland-Pfalz. Im Idealfall soll auf etwa 100 zu betreuende pflegebedürftige Menschen ein Pflegeberater kommen. Die Kassen müssen vom Jahr 2009 an allen ihren pflegebedürftigen Versicherten ein Fallmanagement anbieten. Falls ein Pflegestützpunkt vorhanden ist, wird der Berater dort installiert.
Jacobi-Becker arbeitet bereits heute eng mit den Kassen zusammen. Von einem Fallmanager erhofft sie sich aber noch kürzere Wege. Für Hünlichs stehen solche Fragen konkret noch nicht an: "Wir tun es noch ein bisschen weg. Noch ist es nicht so weit", sagen beide. Bisher funktioniere alles noch ganz gut, auch wenn es manchmal doch schon recht beschwerlich sei.
An einen Platz in einem Altenheim will Eberhard Hünlich nicht denken. Dies sei für ihn nur der letzte Ausweg. Christine Jacobi-Becker verurteilt das nicht: "Alles was Sie entscheiden, ist erst mal richtig." Und trotzdem bekommt das Ehepaar von Jacobi-Becker eine kleine Hausaufgabe auf. Es soll ein Tagebuch geführt werden, bis auf die Minute genau. Pflegestufe I bekommt Eberhard Hünlich nämlich nur, wenn seine Frau ihn mindestens 45 Minuten pro Tag pflegt und ebensoviel Zeit für den Haushalt aufwendet. "Schreiben Sie es mal eine Woche lang auf", sagt die Sozialarbeiterin, bevor das Gespräch nach mehr als einer Stunde beendet ist.
Hünlichs werden später im Büro des Pilot-Stützpunktes in einer Kartei erfasst. "Vielleicht höre ich dann zwei Jahre gar nichts mehr", sagt Christine Jacobi-Becker. Wenn es aber soweit sei, wisse sie gleich, mit wem sie es zu tun habe.
"Wir haben erst durch die Medien erfahren, was wir hier haben", erinnert sich Eberhard Hünlich an die erste Kontaktaufnahme mit der BeKo-Stelle. "Jetzt wissen wir, dass Sie nett sind. Und kompetent sowieso", sagt seine Frau zum Abschied. Über ein solches Lob schmunzelt Jacobi-Becker. Der Besuch bei Hünlichs sei genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Noch könnten sie selbst ihre Zukunft planen, erklärt sie, bevor sie das kleine Haus verlässt und in ihren Smart steigt. Jetzt muss die Sozialarbeiterin ins Büro, das in einem Einkaufszentrum in der Stadtmitte liegt. "Wahrscheinlich ist der Anrufbeantworter wieder voll", sagt sie. Es gebe viel zu tun, besonders seit Januar, als Gesundheitsministerin Schmidt mit einem Medienpulk die Ingelheimer BeKo-Stelle besucht hat. "Unser Angebot ist nun noch bekannter geworden", freut sich Jacobi-Becker.
Im Bundestag sagte Ministerin Schmidt am 14. März: "Wer sich entschließt, einen Angehörigen zu pflegen, braucht dazu seine ganze Kraft und hat keine Zeit, zu Hinz und Kunz zu laufen." Nun könnten und müssten die Länder zeigen, wie wichtig ihnen eine moderne Pflege ist.
Mit der jetzigen Pflegereform werden die Fördermittel für solche Angebote von bisher 20 auf 50 Millionen Euro erhöht. "Pflegestützpunkte werden nicht nur beraten, sondern den Pflegefall während des gesamten Verlaufs begleiten", so Schmidt. Einen solchen "Fall" findet Jacobi-Becker auf dem Anrufbeantworter in ihrem Büro: Eine 100-Jährige wird nach einem Armbruch aus dem Krankenhaus entlassen. Die Dame lebt alleine in einer großen Wohnung in der Stadt. Keiner weiß, wie sie dort nun klar kommen soll, obwohl das ihr Wunsch ist. "Das sind so Sachen, bei denen man Bauchweh hat", sagt Jacobi-Becker und setzt sich ans Telefon. Ihr Notfallplan: Die alte Dame soll zunächst in einer Tagespflege untergebracht werden, bis der Bruch wieder verheilt ist. Danach könne man weiter sehen. Marco Pecht z