SOZIALAGENDA
Mit neuem Maßnahmenpaket will die EU-Kommission Zustimmung der Bürger erhöhen
Das Timing hatte sich EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso ganz sicher anders vorgestellt. Seit Monaten halten die Fachabteilungen ihre Grünbücher, Weißbücher, Mitteilungen und Gesetzentwürfe fest verschlossen in den Schubladen. Brüssel versuchte mit Bürokratieabbau zu punkten und das Image des papierproduzierenden, in alle Lebensbereiche hinein regierenden Molochs loszuwerden.
Genützt hat es nichts. Die Iren lehnten den Lissabon-Vertrag ab. Polens Präsident Lech Kaczynski will ebenfalls nicht unterschreiben und auch aus Prag hört man, das ganze Projekt solle gestoppt werden. Barroso aber kann nicht länger warten. Wenn er nicht am Ende seiner Amtszeit mit leeren Händen dastehen will, muss er noch vor der Sommerpause neue Gesetzesinitiativen auf den Weg bringen.
Als die Beamten letzte Woche ihre Schubladen endlich aufziehen durften, purzelte die "erneuerte Sozialagenda für das 21. Jahrhundert" heraus - neunzehn Mitteilungen, Untersuchungen, Kommunikationen und Initiativen. Ein Großteil stammt aus dem Haus von Vladimir Spidla, der für Sozialpolitik und Arbeitsrecht zuständig ist. Einen kleinen Teil hat auch die Abteilung von Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou beigetragen. Mit dem Papierstapel scheint die Kommission ein für allemal den Vorwurf entkräften zu wollen, Europa kümmere sich nicht um die sozialen Belange seiner Bürger. Brüssel wird sich dafür erneut den Vorwurf einhandeln, zu stark in regionale und kommunale Belange hinein zu regieren.
Eine Rahmenrichtlinie soll regeln, welche Erstattungsansprüche Patienten haben, die medizinische Behandlung in einem anderen EU-Mitgliedsstaat in Anspruch nehmen. Die neue Richtlinie zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung soll praktisch nichts kosten, aber den Patienten enorme Vorteile bringen. Sie soll nicht in die nationalen Versorgungssysteme eingreifen, aber die bestehenden Einrichtungen und das medizinische Wissen allen Bürgern der Gemeinschaft besser zugänglich machen. Wer sich im Ausland behandeln lässt, bekommt den Satz erstattet, der auch im Inland gezahlt worden wäre. Das klingt gut. Doch der Richtlinienentwurf klammert viele Probleme aus und bleibt in entscheidenden Passagen schwammig.
Kritikern geht der Gesetzentwurf nicht weit genug. Die Kommission habe davor zurückgeschreckt, den bei der Dienstleistungsrichtlinie aufgebrochenen Streit auszufechten. "Der Markt für Gesundheitsdienstleistungen ist einer der Märkte mit dem höchsten Wachstumspotential. Diese Chance sollten wir nutzen", fordert der EU-Abgeordnete Andreas Schwab (CDU). Dagegen warnt die grüne Europaabgeordnete Elisabeth Schroedter davor, medizinische Behandlung als Ware zu betrachten. "Diejenigen, die es sich leisten können und mobil genug sind, könnten sich in Zukunft die Rosinen aus den verschiedenen europäischen Gesundheitsangeboten picken."
Auch die Richtlinie über Europäische Betriebsräte bekommt ein Lifting verpasst. Sie existiert seit 1994 und legt fest, dass Unternehmen mit mindestens 1.000 Mitarbeitern und Standorten in mindestens zwei EU-Staaten einen grenzüberschreitenden Betriebsrat haben können. Derzeit gibt es weltweit etwa 2.200 Betriebe, die unter die Richtlinie fallen. 820 dieser Unternehmen haben Europäische Betriebsräte eingerichtet, die nach Berechnungen der EU-Kommission für etwa 15 Millionen Arbeiter sprechen. In der Neufassung der Richtlinie soll die Informationspflicht der Unternehmen ausgeweitet werden, damit die Arbeitnehmervertreter im Fall von Betriebsverlagerungen wie bei Nokia in Bochum früh reagieren und Sozialpläne aushandeln können.
Eine vierte Antidiskriminierungsrichtlinie soll den Gesetzen zur Gleichbehandlung am Arbeitsplatz, zur Gleichstellung der Geschlechter und der ethnischen Gruppen an die Seite gestellt werden. Die neue Richtlinie soll jedem, der sich auf Grund von Alter, Religionszugehörigkeit, Behinderung oder sexueller Orientierung diskriminiert fühlt, den Klageweg eröffnet. Es waren einst die Staats- und Regierungschefs der damals 15 EU-Staaten, die einen umfassenden Antidiskriminierungsparagrafen in den EU-Vertrag schrieben. Die EU-Kommission solle Vorschläge machen, wie die "Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung" bekämpft werden könne. "Einstimmig" werde der Rat dann nach Anhörung des Parlaments beschließen.
Unternehmerverbände fürchten zusätzliche Kosten und Rechtsunsicherheit, wenn vor Sozialgerichten geklärt werden muss, ob die Stellenanzeige "Junger dynamischer Mitarbeiter gesucht" gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, und Gastronomiebetriebe rechnen die Kosten für die Rollstuhlrampe aus. Bis die Richtlinie in nationales Recht übertragen werden muss, ist es noch ein weiter Weg. Die EU-Kommission verabschiedete letzte Woche nur einen Gesetzesvorschlag. Um den Kritikern aus der Wirtschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen, schreibt er den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sehr groß. Deutschland, das 2006 ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz verabschiedete, müsse seine Gesetzgebung überhaupt nicht ändern, glaubt ein Fachmann aus der EU-Kommission.