Wahlrecht
»Negatives Stimmgewicht« ist verfassungswidrig. Aber für die Wahl 2009 ist es noch erlaubt
Kurz nach der Urteilsverkündung erlaubte sich Wilko Zicht schon mal eine Prognose. Bei der nächsten Wahl werde es womöglich zu einem neuen Rekord an Überhangmandaten kommen, sagte der Mann mit der mächtigen Statur.
Gemeinsam mit seinem Mitstreiter Martin Fehndrich hatte er durch eine Wahlbeschwerde soeben ein besonders kompliziertes Stück Wahlrecht in den Orkus der Verfassungswidrigkeit befördert. Es ging um eine verquere Regelung, die Ja-Stimmen auf wundersame Weise in Nein-Stimmen verwandeln kann und umgekehrt - immer vorausgesetzt, es gibt Überhangmandate. Die bekommt eine Partei dann, wenn sie in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Verhältnis der Zweitstimmen über die Liste zustünden - was von Karlsruhe schon 1997 skeptisch beäugt, aber letztlich gebilligt worden war.
Jedenfalls war es ein Novum in der Historie des Bundesverfassungsgericht - noch nie zuvor ist wegen einer Wahlbeschwerde eine Vorschrift gekippt worden. Doch weil die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber eine rasche Reparatur der - wie es im Urteil heißt - "nicht ganz einfach nachzuvollziehenden Paradoxie des Bundeswahlgesetzes" nicht zutrauten, gewährten sie dem Bundestag in ihrem Urteil vom 3. Juli eine ungewöhnlich großzügige Frist: Bis 30. Juni 2011 muss das neue Wahlrecht stehen. Im September 2009 darf also noch nach dem bisherigen - verfassungswidrigen - System gewählt werden. Und weil in dem Urteil schön erklärt ist, wie die Wähler mit ihren Stimmen merkwürdige Effekte erzielen können, werden sie im September 2009 - meint Zicht - noch sehr viel stärker taktisch wählen als bisher. Dabei war die Konsequenz der Regelung, die der Zweite Senat nun wegen eines eklatanten Verstoßes gegen die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl beanstandete, bisher noch kaum jemandem so richtig aufgefallen.
Erst als bei der Bundestagswahl 2005 wegen des Todes einer NPD-Direktkandidatin eine Nachwahl in Dresden notwendig geworden war, konnte man das, was Experten "negatives Stimmgewicht" nennen, am Rechenexempel durchspielen. Das Ergebnis war kurios: Die CDU warnte ihre sächsischen Anhänger davor, mit der Zweitstimme die CDU zu wählen. Denn Sachsen verfügte bereits über mehrere Überhangmandate. Und weil solche Direktmandate so oder so erhalten bleiben, hätte die CDU mit einem allzu guten Zweitstimmenergebnis in Dresden - die magische Marke lag bei gut 41.000 Stimmen - durch die Verrechnung zwischen den Landeslisten bundesweit ein Mandat eingebüßt. Am Ende gelang es der Union, in Dresden schlecht genug abzuschneiden, so dass bei der Vergabe der Listenplätze eine andere Landesliste zum Zug kam - die CDU-Anhänger, die ihrer Partei das Kreuz verweigert hatten, hatten ihr damit einen Dienst erwiesen.
Hat man den Effekt einmal verstanden, liegt seine Verfassungswidrigkeit auf der Hand. Er führt nach den Worten der Karlsruher Richter "zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen". Zugleich aber werden die Parteien und die Wähler gelernt haben, wie sie die wundersame Verwandlung von Minus in Plus zu ihren Gunsten einsetzen können.
In einigen Ländern dürfte sich der "Lotterie-Effekt" sogar kalkulieren lassen. Überhangmandate haben seit der Wiedervereinigung Konjunktur, drei Viertel der mehr als 70 Überhangmandate in der Geschichte der Bundesrepublik stammen aus der Zeit nach 1990 - mit Schwerpunkt im Osten und in den Stadtstaaten. Bremen beispielsweise, das ist im Urteil ausdrücklich erwähnt, sei "regelmäßig von dem Effekt des negativen Stimmgewichts betroffen". Kann der Wähler also einigermaßen sicher auf Überhangmandate "seiner" Partei bauen, wird er seine Zweitstimme taktisch einsetzen, etwa für einen potenziellen Koalitionspartner.
Zurückhaltend blieb der Zweite Senat indes mit Ratschlägen, wie das Dilemma zu lösen sei. Mehr als ein paar Stichworte sind in dem 46-Seiten-Urteil nicht zu finden. Das mag damit zusammenhängen, dass der federführend zuständige Berichterstatter Rudolf Mellinghoff ohnehin nichts davon hält, Karlsruhe zum Ersatzgesetzgeber zu machen. Hinzu kommt, dass die Korrektur mehr als nur einen Federstrich bedeutet. Für welche Lösung sich der Bundestag entscheidet, hat durchaus politische Implikationen.
Die radikalste und damit wohl unwahrscheinlichste Lösung, die das Gericht anbietet, läuft unter dem Stichwort Grabensystem: Die Hälfte der Abgeordneten würde nach dem Mehrheits- und die andere Hälfte nach dem Verhältniswahlsystem gewählt - dazwischen verliefe ein "Graben", der Verrechnungen ausschließt. Das wäre eine deutliche Stärkung der "personalen Komponente" - und würde die kleinen Parteien massiv benachteiligen. Größere Umstellungen brächte auch der Verzicht auf die Listenverbindungen mit sich, deren Existenz letztlich das "negative Stimmgewicht" ermöglicht hat. Auch dadurch würde das Stimmenverhältnis verzerrt.
Bleibt folgende Lösung: Überhangmandate werden bundesweit nach dem genauen Verhältnis der Zweitstimmen mit Listenmandaten verrechnet, womit sie faktisch verschwinden. Damit würde zwar möglicherweise der Proporz zwischen den Ländern ein wenig verschoben: Gewinnt die Sachsen-CDU mehr Direkt- als Listenmandate, dann kann das - durch die bundesweite Verrechnung - beispielsweise auf Kosten der Listenmandate der Union in Nordrhein-Westfalen gehen. Bundesweit jedoch würde sich der Wille der Wähler genauer als bisher in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln - ein Umstand, den wohl auch die Wähler als gerecht empfinden würden.