Flucht und Vertreibung
Andreas Kossert über ein schwieriges Kapitel deutscher Geschichte
14Millionen betrug die kaum vorstellbare Zahl der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ost- und Südosteuropa heimatvertriebenen Deutschen. Mindestens zwei Millionen von ihnen erfroren, ertranken, starben bei Angriffen auf die Flüchtlingstrecks oder waren zuvor als "Hoheitsträger" und "Amtswalter" der Nazis erschossen worden. Für die übergroße Mehrheit unter den Überlebenden von ursprünglich 18 Millionen Deutschstämmigen bedeutete die Vertreibung aus ihren historischen Siedlungsgebieten vom Baltikum bis Bessarabien, aus Ostpreußen, Schlesien und den Sudeten Sippenhaft.
Die gewaltigste ethnische Vertreibung in der europäischen Geschichte war die bittere Konsequenz des nationalsozialistischen Größenwahns, der Kristallnacht und der Okkupation, der Massaker an Polen, Balten, Russen, Weißrussen, Ukrainern und vor allen an den europäischen Juden, der Gettos von Riga und Warschau, der "Vernichtung durch Arbeit" in den Konzentrationslagern Stutthof bei Danzig oder Groß-Rosen in Schlesien, der Massenvernichtungslager Auschwitz und Majdanek. Diesen Hintergrund beleuchtet Andreas Kossert, der als Slawist und Historiker am Deutschen Historischen Institut in Warschau arbeitet, in seinem Buch "Kalte Keimat" kaum. Vielmehr untersucht er die Folgen des gewaltigen Zustroms der "fremden" Deutschen, ihre Traditionen, ihre Entwurzelung, ihre materielle und seelische Not und die verbreitete Ablehnung durch die Einheimischen.
Gestützt auf vielfältiges Quellenmaterial, Zahlen und Zeitzeugenberichte erschüttert Kossert die Legende von der rundum geglückten Integration der Heimatvertriebenen. Sein Verdienst ist es, erstmals und weitgehend unparteiisch die im gesellschaftlichen Gedächtnis verdrängte Ankunft von fast einem Fünftel aller Deutschen in Nachkriegsdeutschland zu untersuchen.
In seinem Geschichte lebendig vermittelnden Buch schildert Kossert eingangs traumatische Erfahrungen während der Flucht vor den sowjetischen Truppen und bei den nachfolgenden wilden, später durch die Alliierten verfügten systematischen Zwangsaussiedlungen. Es waren Berichte, wie der über jene Frau, die auf dem Transport in einem Güterwagen im eisigen Winter nach der Entbindung festfror und starb, die die Alliierten veranlassten, wenigstens humanere Transportbedingungen einzufordern.
In den Hungerjahren im Nachkriegsdeutschland führten Einquartierungen und die Versorgung der Flüchtlinge vielfach zu Abwehrhaltungen der Alteingesessenen, zu hysterischen Reaktionen und zur Diffamierung als "dahergelaufenes Gesindel". Zum zweiten Kulturschock für die "Habenichtse" wurden pauschale Nazi-Vorwürfe, mit denen Einheimische sich vom eigenen Versagen entlasteten. Auf soziale Ausgrenzung antworteten Vertriebene häufig mit Demut und dem Verschweigen widerfahrener Vertreibungsverbrechen - der Preis für den "Erwerb einer neuen Heimat".
Anfangs waren es besonders die evangelische und katholische Kirche, die - als einzige von den Allierten als unbelastet eingestuft - den Vertriebenen Raum boten, das verhängte Koalitionsverbot zu unterlaufen, verdeckte Heimattreffen und Wallfahrten zu veranstalten und über den kirchlichen Suchdienst Kontakte in die alte Heimat herzustellten. Die kirchliche Integrationskraft und das Bewahren starker religiösen Traditionen unter den Vertriebenen als Ausdruck ihrer Heimatverbundenheit, zeigt Kossert anschaulich, veränderte zugleich das konfessionelle Antlitz Westdeutschlands, wie seit der Reformation nicht mehr. Kossert untersucht zudem die bundesdeutsche Integrationspolitik, die Lastenausgleichszahlungen als größten sozialpolitischen Transfer vor der Wiedervereinigung und den ihnen innewohnenden sozialen Sprengstoff. Er geht ein auf die Rolle der Vertriebenenverbände und Landsmannschaften zwischen Zusammenhalt und destruktivem revanchistischem Funktionärsgebaren.
Kossert zeigt, wie in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung bis Ende der 1980er-Jahre, in frühen filmischen und literarischen Seifenopern die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen als Erfolgsgeschichte geschönt wurde, um mit einem positiven Außenbild gesellschaftliche Spannungen abzubauen. Es waren Günter Grass und Otto Schily, die stellvertretend für die Literatur und für die politische Linke ihrer Generation sehr spät bekannten, Vertreibungsverbrechen zu Unrecht ignoriert zu haben. Mit Exkursen in Literatur, Film und Politik belegt Kossert, wie vermint das Thema bis weit in die 90er-Jahre war.
In der DDR durfte Vertreibung nur als Preis für Nazi-Untaten dargestellt werden. Welcher politische Sprengstoff dem Thema innewohnte, erlebten der Dramatiker Heiner Müller und mehrere Schauspieler 1961 nach dem Verbot des Stückes "Die Umsiedlerin". Mit 4,3 Millionen Menschen kamen mehr als ein Drittel der im sozialistischen Sprachgebrauch genannten "Umsiedler" in die SBZ/DDR - viele mit der Hoffnung, so schneller in die alte Heimat zurückkehren zu können. Ihre Arbeitskraft wurde dringend benötigt, ihr Schicksal jedoch totgeschwiegen und sie selbst waren 40 Jahre zum Schweigen verdammt.
Eine sachliche Geschichte der Vertreibung und ihrer Folgen ist noch immer ein Drahtseilakt. Andres Kossert hat ihn gemeistert und einen der letzten weißen Flecken der west- wie ostdeutschen Nachkriegsgeschichte erforscht.
Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945.
Siedler Verlag, München 2008; 432 S., 24,95 ¤