VOR ZEHN JAHREN
1998 wurde der Menschenrechtsausschuss als eigenständiger Ausschuss gegründet. Ein Rück- und Einblick
Am Anfang stand das Chaos. Grundsätzliches musste erst mal geklärt werden: Wo treffen wir uns? Und wann? Was sind unsere Themen, was unsere Prioritäten? Es gab keinen Raum, keinen Termin, dafür aber viele neue Kollegen und im Herbst 1998 mit der Konstituierung des 14. Deutschen Bundestages einen neuen ständigen und von nun an eigenständigen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Parlament. Er hatte 15 Mitglieder und 14 Stellvertreter, es gab ein neues Sekretariat und eine neue Vorsitzende: Claudia Roth. Die Grünen-Politikerin war gerade aus dem Europaparlament gekommen, sie hatte dort im Unterausschuss für Menschenrechte gesessen und war erste Berichterstatterin für Menschenrechte in der Europäischen Union gewesen. Menschenrechte, das war ihr Ding, ihr Thema. Doch an diesem 13. November vor zehn Jahren, als sich der Ausschuss zu seiner ersten Sitzung traf, war sie aufgeregt. "Ich kam von außen, mit einem Image, bei dem manche sicher dachten: Auweia", sagt sie heute, nachdenklich. Und dann sollte sie diesen Ausschuss führen. Die Fraktionen hatten ihre Spitzenleute entsandt: Christian Schwarz-Schilling (CDU), der langjährige Postminister im Kabinett Kohl. Die ehemaligen Bundesminister Norbert Blüm (CDU) und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Heiner Geißler, den früheren CDU-Generalsekretär. "Das war ein Elder-Statesmen-Gremium vom Allerfeinsten", erinnert sich Claudia Roth. Und fügt dann mit sichtbarem Stolz hinzu: "Und wir haben alle an einem Strang gezogen."
Die Aufwertung der deutschen Menschenrechtspolitik, das Verständnis von Menschenrechten als Querschnittsaufgabe, mit dem sich jedes Politik- ressort auseinanderzusetzen hat, Menschenrechte als Leitlinie der deutschen Außenpolitik - das hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen schon in der Opposition von der Bundesregierung gefordert. Kaum selbst in Regierungsverantwortung, machten sie Nägel mit Köpfen. Im November 1998 schuf die Koalition das Amt des "Beauftragten der Bundesregierung für die Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt". Im März 2001 wurde - mit etwas Verzögerung - auf Empfehlung des Bundestages das Deutsche Institut für Menschenrechte gegründet. Das dritte, bedeutende Kernstück des Forderungskatalogs aus rot-grünen Oppositionszeiten wurde unmittelbar nach der Wahl realisiert: die Schaffung des Vollausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Ein Gremium dieses Namens gab es zwar schon, jedoch "nur" als Unterausschuss des Auswärtiges Ausschusses, ohne die Möglichkeit im Plenum zu berichten, ohne die entsprechende mediale Aufmerksamkeit. Sein Vorsitzender war von 1995 bis 1998 der CDU-Abgeordnete Christian Schwarz-Schilling, der danach auch stellvertretender Vorsitzender des Vollausschusses wurde. "Es war die richtige Entscheidung, dass der Ausschuss prinzipiell unabhängig sein sollte", erzählt er am Telefon aus Sarajevo, wo der 78-Jährige heute als Professor an der Universität Politische Wissenschaften lehrt. "Ich habe mich auch dafür ausgesprochen, aber das wurde durch unsere Koalition damals nicht gemacht", sagt er. Der Vollausschuss sei erst durch Rot-Grün möglich geworden.
"Ganz ausgezeichnet" sei die Zusammenarbeit in diesem Ausschuss dann gewesen, sagt Schwarz-Schilling. "Wir haben nicht zuerst nach der Partei gesehen, sondern nach dem Anliegen. Wir haben Sacharbeit geleistet, damit wir die Menschenrechte nicht nur am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, groß im Bundestag erklären, sondern das konkrete Schicksal der Menschen verbessern."
Allerdings hat die "sachliche Arbeit" des Ausschusses in den vergangenen Jahren bei so manchem Regierungsvertreter auch für Irritationen gesorgt. Denn das Gremium beschränkte sich längst nicht darauf, sich "nur" mit Menschenrechtsproblemen jenseits der eigenen Grenzen zu befassen. Claudia Roth sagt: "Das wichtigste Signal aus meiner Sicht war, dass wir die Menschenrechtspolitik herausgeholt haben aus der Unterordnung zur Auswärtigen Politik. Denn damit schließt man alle Themen, die mit dem eigenen Land zusammenhängen, aus. Wir haben gesagt: Um glaubwürdig zu sein, fangen wir erst mal bei uns an."
Und so wurden die Bundesminister fast aller Ressorts in den Ausschuss eingeladen. Nicht selten, bestätigen ehemalige Mitglieder, hätten sie sich geweigert zu kommen. Was haben wir damit zu tun? Mit Menschenrechten haben wir doch in Deutschland keine Probleme, hieß es. Mit Unterstützung der SPD-Fraktion wurden die Minister dann vor den Ausschuss zitiert. Dort diskutierte Heiner Geißler mit Innenminister Otto Schily (SPD) über das Grundrecht auf Asyl und den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland. Oder die Abgeordneten sprachen mit dem Verteidigungsminister über Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen in der Bundeswehr.
Ein anderes Beispiel für die Hartnäckigkeit des Ausschusses nennt Christa Nickels (Bündnis 90/Die Grünen), Vorsitzende von 2001 bis 2005. Die Mitglieder waren auf dem Weg in den Nord- und Südsudan und nach Darfur, als sie in der Luft vom Auswärtigen Amt informiert wurden, sie seien "unerwünscht und sollten die Reise abbrechen". Nickels erinnert sich: "Die Delegation blieb einmütig sitzen und riskierte damit eine Ausweisung. Eine Fernsehreportage über die Erfahrungen vor Ort machte die skandalösen Zustände später öffentlich."
Direkter Einsatz, offene Kritik - auch für die Bundesregierung, die sich oft auf schwierigem diplomatischem Parkett bewegt, kann ein Ausschuss, der mit Fingerspitzengefühl, aber auch dem notwendigem Druck, Dinge anschiebt, durchaus von Vorteil sein. Für den Menschenrechtsbeauftragten der Regierung, Günter Nooke (CDU), hat der Menschenrechtsausschuss jedenfalls eine besondere Bedeutung. "Unsere Diplomatinnen und Diplomaten werden bei allem persönlichen Einsatz stets als Amtsträger angesehen. Das Engagement der Abgeordneten bringt dagegen eine besondere, unverzichtbare Komponente mit ins Spiel: Als unabhängige, gewählte Volksvertreter können sie als Person sprechen."
Nicht weniger wichtig ist der Ausschuss für die Menschenrechtsorganisationen. So veranstaltet er regelmäßig Anhörungen, zu denen ihre Vertreter eingeladen werden. Barbara Lochbihler, die Generalsekretärin von amnesty international Deutschland, lobt die Zusammenarbeit mit dem Ausschuss als "sehr offen und kontinuierlich". Auch sehr spezielle Themen aus dem Umfeld der Nichtregierungsorganisationen wie die Menschenrechtsbindung bei Auslandseinsätzen kämen so ins Parlament. Bedauerlich findet Lochbihler nur, dass sich, wie sie findet, andere Ausschüsse inzwischen weniger mit menschenrechtsrelevanten Themen beschäftigen. Sie hätte sich zum Beispiel gewünscht, dass ein so umfangreiches Dokument wie der achte Menschenrechtsbericht der Bundesregierung "nicht nur im Menschenrechtsausschuss, sondern auch in anderen Ausschüssen diskutiert worden wäre - etwa im Europaausschuss, im Auswärtigen Ausschuss und im Rechtsausschuss".
Marianne Heuwagen, seit drei Jahren Direktorin des Deutschlandbüros von Human Rights Watch, beobachtet ebenfalls die "Neigung, Menschenrechtsthemen beim Menschenrechtsausschuss abzuladen". Sehr lobenswert fand sie daher, dass der Ausschuss in diesem Jahr zu einer gemeinsamen Anhörung mit dem Sportausschuss zur Lage der Menschenrechte in China eingeladen hatte. Allerdings hatte sie gehofft, dass der Bundestag im Anschluss daran auch eine Erklärung in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen in China vorbereitet. Dies sei jedoch nicht geschehen. "Es sind nur einzelne Themen, wo ich mir ein noch entschiedeneres Vorgehen wünschen würde", betont Heuwagen, und fügt hinzu: "Insgesamt ist der Ausschuss ein sehr guter Ansprechpartner für die Nichtregierungsorganisationen. Die Mitglieder sind sehr offen für die Themen, die wir an sie herantragen." So habe sich der Ausschuss auch für die Resolution des Bundestages zur Ächtung und Abschaffung von Streubomben eingesetzt.
Herta Däubler-Gmelin (SPD), seit November 2005 Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, ist sich sicher, dass die Meinung der Menschenrechtsaktivisten heute deutlicher wahrgenommen wird. In den zehn Jahren seines Bestehens habe sich der Ausschuss zu einem "ernsthaften Partner für die Menschenrechtsorganisationen der Zivilgesellschaft etabliert", sagt sie im Interview mit dieser Zeitung (siehe unten).
Doch soweit war der Ausschuss 1998 noch lange nicht. Da musste das Team um Claudia Roth und Christian Schwarz-Schilling erst einmal improvisieren. Ein Termin für die künftigen Sitzungen war bald gefunden (Mittwoch, 13 Uhr). Ein Raum ebenfalls: Einer Grünen-Vorsitzenden mehr als angemessen tagten die Mitglieder des ersten eigenständigen Menschenrechtsausschusses bis zum Regierungsumzug 1999 ganz in der Nähe des Bundeshauses in Bonn in einem Haus umgeben von Gärten und Grün. Einzig das Catering weigerte sich, die Abgeordneten dorthin an diesem langen Sitzungstag mit Brötchen und Getränken zu beliefern. Ihre Mineralwasserkästen mussten die Mitarbeiter alleine zu den Treffen schleppen. "Das Menschenrecht auf Nahrung", bemerkt dazu schmunzelnd ein ehemaliger Mitarbeiter des Ausschusses, "war dort leider außer Kraft gesetzt."