HESSEN
Vier SPD-Abgeordnete verhindern die Wahl Ypsilantis zur Regierungschefin. Nun gibt es Neuwahlen
Vier Abgeordnete haben den Regierungswechsel in Hessen einen Tag vor der entscheidenden Abstimmung platzen lassen. Jetzt soll neu gewählt werden. Nach dem Fahrplan von Ministerpräsident Roland Koch (CDU) würde sich der Landtag am 19. November auflösen, die Neuwahl am 18. Januar kommenden Jahres stattfinden.
Zwei Ansichten gibt es über die SPD-Abgeordneten Jürgen Walter, Carmen Everts, Silke Tesch und Dagmar Metzger: Die einen sagen, es seien vier Aufrechte, die das Land vor Ypsilantis Egotripp mit der Linkspartei bewahrt haben. Die anderen sprechen von Abtrünnigen, die die Partei wegen einer unglaubwürdigen Gewissensentscheidung in den Abgrund stürzen.
"Ich war und bin zutiefst zerrissen mit diesen schwerwiegenden Bedenken und meiner Loyalität zu meiner Fraktion und meiner Verbundenheit zur SPD", versucht Carmen Everts, seit 20 Jahren Sozialdemokratin, ihre Gemütslage zu umschreiben. Sie hat über politischen Extremismus und die PDS promoviert, sagt, dass die Linke die parlamentarische Demokratie ablehne, der Sozialdemokratie schaden wolle. Auf ihre Bedenken hat sie offenbar immer hingewiesen, aber nie Konsequenzen gezogen. Einen Tag vor der entscheidenden Abstimmung erklärt sie: "Ich kann es nicht." Dies müsse sie allein mit ihrem Gewissen abmachen.
"Wir leben in einer Demokratie mit einem freien Abgeordnetenmandat", betont auch ihre Mitstreiterin Dagmar Metzger. Die Darmstädter Abgeordnete hatte bereits im März, als Ypsilanti ihren ersten Anlauf zur Bildung einer rot-grünen Minderheitenregierung unternommen hatte, aus ihrer persönlichen Biografie heraus eine Zusammenarbeit mit der Linken und eine Mitwahl Ypsilantis unter diesen Bedingungen abgelehnt und war von ihrer Position seitdem nicht mehr abgewichen. Wegen dieser Kontinuität und weil ihre Verweigerungshaltung das rot-grün-rote Projekt zwar immer gefährdet hat, aber am Ende nicht hätte verhindern können, bekommt sie den Zorn der hessischen SPD nun etwas weniger zu spüren. Die drei anderen Abweichler jedoch stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Vor allem den monatelangen Zick-Zack-Kurs von Ypsilantis altem Gegenspieler Walter, der nach eigenen Worten nun "mit sich im Reinen ist", kommentieren führende Genossinnen und Genossen mit Wut und Verbitterung. "Es ist ein Quartett der Täuschung", erklärt der SPD-Abgeordnete Thorsten Schäfer-Gümbel. Partei und Fraktion seien systematisch an der Nase herum geführt worden: "Die Gewissensgründe nimmt ihnen keiner ab." Hermann Schaus, Mitglied der Linksfraktion und stellvertretender Landtagspräsident, spricht von "Hinterhalt" und "politischen Schweinen", eine Äußerung, für die er sich zwar mittlerweile entschuldigt hat, die aber dennoch in der Welt ist. Die Wut über die Vier verraucht auch Tage nach dem Nein nicht. Fraktion und Landesvorstand haben die vier aufgefordert, ihr Abgeordnetenmandat zurückzugeben. Der Parteibezirk Hessen-Nord verlangt den Parteiausschluss.
"Man muss sich schon fragen, warum sie die Partei nicht verlassen", erklärt Reinhard Kahl, der unter Ypsilanti hätte Finanzminister werden sollen. Kahl verweist auf die Probeabstimmung vom 30. September, in der alle Fraktionsmitglieder bis auf Metzger mit Ja gestimmt hatten. "Wir haben das Votum abhängig gemacht von der Partei." Und die habe schließlich mit mehr als 95 Prozent dem Koalitionsvertrag und der Duldung durch die Linkspartei zugestimmt. Für die SPD und teilweise im Windschatten des Wahlerfolgs vom 27.Januar seien die vier in den Landtag eingezogen. "Niemand wird Landtagsabgeordneter aus seiner Persönlichkeit heraus." Hieraus ergibt sich für Kahl die Verpflichtung, Mehrheitsbeschlüsse der Partei mitzutragen, zumal, wenn sie in einem "breit angelegten Abstimmungsprozess" vorbereitet würden. "Sonst kann die parlamentarische Demokratie nicht funktionieren."
Aber der parlamentarische Geschäftsführer weiß auch, dass das im Grundgesetz festgeschriebene freie Mandat eines Abgeordneten in letzter Konsequenz nicht antastbar ist. "Wir können an dieser Stelle nur appellieren." So steht das Spannungsverhältnis zwischen Artikel 38 des Grundgesetzes, nach dem Volksvertreter an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind, und der zwar nirgendwo festgeschriebenen, aber in der praktischen Politik tagtäglich angewandten Fraktionsdisziplin, zur Diskussion. Auf der einen Seite, erklärt Politologe Nils Diederich, gebe es eine große Loyalitätsbindung der Abgeordneten an die Partei, der sie schließlich ihr Mandat verdankten. Andererseits ermögliche Artikel 38 ihnen eine "minimale" Handlungsfreiheit. "Das ist etwas, das den Fraktionszwang überwindet", sagt der Experte vom Berliner Otto-Suhr-Institut.
"Nach meiner Einschätzung ist dieses Spannungsverhältnis aber nicht zu überwinden", erklärt Diederich, der selbst 17 Jahre für die SPD im Bundestag gesessen hat. Die Glaubwürdigkeitsfrage jedoch ist es, die in seinen Augen den aktuellen hessischen Fall so speziell macht. Der Politologe hält die Argumentation der vier Betroffenen für "sehr, sehr schütter". Man wache nicht plötzlich auf und entdecke sein Gewissen: "Sie hätten es vorher offen bekennen müssen." Gleichwohl gibt Diederich einem Parteiausschluss nur geringe Chancen: "Wer sich auf sein Gewissen beruft, darf nicht mit dem Ausschluss bestraft werden." Auch für den Präsidenten des hessischen Landtags, Norbert Kartmann, ist es ein selbstverständliches Commitment in der Politik, in Sachfragen der Mehrheitsmeinung der eigenen Fraktion zu folgen: "Ich entscheide mich nicht für die CDU und stelle mich hinterher gegen sie." Dennoch sei der Abgeordnete in "allen Entscheidungsstufen frei".
Typische Gewissensentscheidungen stellen sich nach seiner Ansicht bei Themen wie dem Paragraphen 218 oder Patientenverfügungen. Den Gewissenskonflikt von Metzger, Walter, Tesch und Everts nimmt der CDU-Politiker sehr ernst - trotz ihrer kurzfristigen Entscheidung: "Wir haben nicht das Recht zu richten. Was wirklich in ihren Köpfen vorgegangen ist, entzieht sich uns allen." Er sei sich sicher, dass die vier Abgeordneten sich auch der persönlichen Konsequenzen bewusst gewesen seien, betont Kartmann.
Diese könnten weitreichend sein - nicht nur für die vier Abweichler, deren Zukunft in den Sternen steht, auch für ihre Partei, der sie weiter angehören wollen. Ihr Nein zum Regierungswechsel und ihre Vorgehensweise, sagt Wissenschaftler Diederich, habe die hessische SPD in eine ganz schwierige Situation gebracht.
Die vier in Ungnade Gefallenen verfolgen alle Diskussionen im Moment aus sicherer Entfernung. Sie wollen zusammen halten, reden deswegen nur gemeinsam mit der Öffentlichkeit und haben sich an einen geheimen Ort zurückgezogen. Am 11. November wollen sie zurückkehren und sich ihrer Fraktion stellen. Eines jedoch lassen sie über die "Franfurter Allgemeine Zeitung" schon einmal aus dem Exil verlauten: "Wir werden keinen von CDU und FDP gestützten Ministerpräsidenten wählen - wie auch immer er heißt."