Unruhe machte sich breit im Deutschen Bundestag. Zwischenrufe brandeten auf, einige Abgeordnete verließen empört und kopfschüttelnd den Plenarsaal. Und das ausgerechnet während der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht.
Stein des Anstoßes war die Rede, die Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) zum 50. Jahrestag der Schreckensnacht hielt. Knapp 45 Minuten reichten aus, um aus der stillen Gedenkveranstaltung einen Tumult werden zu lassen und Jenninger unsanft aus dem Amt zu katapultieren.
Der CDU-Politiker hatte eine Rede gehalten, in der er versuchte, die historischen Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland offen zu legen. Er betonte, Antisemitismus sei in Deutschland schon vor den Nazis ein Thema gewesen. Hitler habe darauf zurückgreifen und den unterschwelligen Judenhass aufs Extremste brutalisieren können. Jenninger versuchte, die Popularität des Nationalsozialismus zu erklären und sprach vom "Faszinosum" Adolf Hitler und dessen "politischem Triumphzug". Ungeschickte Formulierungen, die sich als Verharmlosung der Novemberpogrome und Verständnis für den Rassenwahn deuten ließen.
Auch zahlreiche rhetorische Fragen, mit denen Jenninger die damaligen Denkmuster aufzugreifen versuchte, wirkten verstörend auf die Anwesenden: "Mussten sie (die Juden; Anm. d. Verf.) nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?". Den Bundestag spaltete er damit in zwei Lager. "Der Mann ist nicht mehr vertretbar", fand Hubert Kleinen, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hingegen verteidigte Jenninger. "An seinem Engagement für die Aussöhnung mit den Juden sind Zweifel nicht erlaubt", betonte der Kanzler. Jenninger hatte als Bundestagspräsident zwei vielbeachtete Reisen nach Israel unternommen.
Doch alle Verteidigungsversuche halfen nichts. Am Tag nach seiner Rede trat Jenninger von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück. "Ich bedauere es sehr, dass ich auch manche Gefühle damit verletzt habe", bekundete Jenninger hinsichtlich seiner Rede. Jedoch betonte er gleichzeitig, dass er sich falsch verstanden fühle und es nicht seine Absicht gewesen sei, den Holocaust zu verharmlosen.
Ein Jahr später hielt Ignatz Bubis, der spätere Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, in der Frankfurter Synagoge zum gleichen Anlass eine Rede, in der er nach eigenem Bekunden "große Abschnitte" der Jenninger-Rede übernahm, ohne dass ein Zuhörer davon Notiz nahm oder gar den Raum verließ. Noch heute handelt die Sprachwissenschaft die Rede als Beispiel dafür, wie weit Intention und Wirkung durch Wortwahl und Vortragsweise auseinanderliegen können.