Ein bisschen erinnert es an eine exotische Schnecke, was Burkhard Lüdtke in den Händen hält. Doch wenn man das sandsteinfarbene Modell genauer betrachtet, bemerkt man filigran gearbeitete Säulen, Stufen und Gänge. Das Modell zeigt einen Querschnitt durch das Reichstagsgebäude; am 12. November soll es im Foyer des Hauses präsentiert werden. Im Auftrag des Bundestages hat Lüdtke, Hochschullehrer am Institut für Architektur an der Technischen Universität Berlin, es zusammen mit seinen Studenten erstellt. Ein verkleinertes Abbild des kompletten Gebäudes und ein Umgebungsmodell des Reichstagsviertels begrüßen schon seit zwei Jahren nicht-sehende wie sehende Besucher. Der Querschnitt soll zusätzlich eine Vorstellung von Plenarsaal und Kuppel-Innerem ermöglichen und das Modell-Ensemble komplettieren.
Die Idee, auch blinden Menschen eine Vorstellung vom deutschen Parlamentsgebäude zu ermöglichen, ist bereits einige Jahre alt. Vor fünf Jahren wurde Lüdtke vom Bundestag gebeten, sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Bis das erste Modell von den Besuchern ertastet werden konnte, war es jedoch ein langer Weg, .
"Mir war von Beginn an klar, dass wir diese Aufgabe nur zusammen mit blinden Menschen lösen können", erinnert er sich. In Rainer Delgado vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband fand er einen Partner, der das Projekt über Jahre begleitete. Am Anfang stand dabei eine Art Experiment: Zunächst sollten die am Projekt beteiligten Studenten einen Eindruck bekommen, wie sehbehinderte Menschen das Reichstagsgebäude wahrnehmen. In Dreiergruppen - ein Student, ein Blinder und eine Begleitperson - erfühlten sie das körnige Sandstein der Wände, die Kühle der Glasfenster, die Fugen zwischen den Wandfliesen. Diese Tasterlebnisse auch am Modell zu vermitteln machte sich die Gruppe um Burkhard Lüdke zur Aufgabe.
Dabei konnten sie auf wenige Vorbilder zurückgreifen. Denn: Viele Modelle bestehen aus Bronze. Ein Material, das nicht geeignet ist, feine Strukturen und Kanten nachzubilden. "Das sieht dann aus wie Kinderspielzeug", ereifert sich Lüdtke. "Die Blinden wollen sich ja nicht veralbern lassen." Extra für die Modelle entwickelte die Arbeitsgruppe deshalb ein neues Material. "Allein um das richtige Gießverfahren für die Mischung aus Kunststoff und Quarzsand zu entwickeln, haben wir mehr als ein Jahr gebraucht", erzählt er.
Doch das Ergebnis kann sich fühlen lassen: Die rauen Wände erwecken den Anschein von Sandstein, während die Modelle der Fenster glatt und kühl sind. Auch bei der Größe gingen Lüdtke und sein Team von den Bedürfnissen Nicht-Sehender aus: Das Gesamtmodell des Reichstages ist gerade so groß, dass man mit ausgebreiteten Armen zwei Ecken berühren kann. "Die Blinden sollen das Gebäude schließlich begreifen können", erklärt Lüdtke.
Etwa 250 Studenten haben in den vergangenen Jahren am Projekt mitgearbeitet. Jetzt kommt es zum Abschluss. Nur die Braille-Inschrift auf dem letzten Modell fehlt wenige Tage vor der Fertigstellung noch. Mit einem ungewöhnlichen Auftrag hat Burkhard deshalb einen seiner Mitarbeiter losgeschickt: Er soll möglichst viele Stahlkämme kaufen. "Die sind sehr stabil und die einzelnen Zinken sind an den Enden abgerundet", erklärt Lüdtke. Diese werden abgesägt und ins Kunststoffmodell gebohrt, um das Modell zu beschriften. Sechs Zinken braucht man für jeden Buchstaben des Braille-Alphabetes für Blinde.
Bei speziellen Führungen durch den Bundestag können sich sehbehinderte Menschen einen plastischen Eindruck vom Reichstagsgebäude verschaffen. Doch auch sehende Besucher finden an den Modellen Gefallen: Die meisten Reichstagsführungen machen bei ihnen Station. Lüdtke freut sich darüber: "Es ist gut, wenn sich bei solchen Gelegenheiten die Hände von Blinden und Sehenden überkreuzen ." Und arbeitet bereits an seinem neuesten Plan: Gemälde für Blinde "sichtbar" zu machen.