Organisiertes Verbrechen
Misha Glenny und Petra Reski über Mechanismen und Hintergründe
Es war das Jahr der großen Hoffnungen: 1989. Offenbar aber auch das Jahr der großen Täuschungen. Darauf lassen zwei kürzlich erschienene Bücher schließen, die den gegenwärtigen Radius der Mafia abmessen: Petra Reskis "Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern" und Misha Glennys "McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens".
Galt einst der Titel "Mafia" allein jenem sizilianischen Männer-Bund, der schon im 19. Jahrhundert von den italienischen Behörden so bezeichnet wurde, und seinem amerikanischen Ableger, so wird der Begriff heute auf jegliche Verbrecherorganisation gemünzt, die sich der bewährten Mafia-Methoden - Schutzgelderpressung, Gewalt und Korruption oder Kontamination der politischen Klasse - bedient.
Der ersten, traditionsreichen und in der autochthonen Kultur verwurzelten Mafia Siziliens hat die Journalistin Petra Reski - nebst ein paar Seitenblicken auf die anderen italienischen Mafia-Organisationen, die in den vergangenen zwei Jahren durch spektakuläre Morde Schlagzeilen machten - ihr Buch gewidmet. Der 500 Seiten starke Band des BBC-Korrespondenten Glenny spannt hingegen den Bogen vom Balkan bis Japan über den halben Globus, um das weltweite Netz von Verbrechersyndikaten nachzuzeichnen, deren Umsätze, so Glenny, zwischen 17 und 25 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts betragen und tagtäglich in den Kreislauf der weltumspannenden Finanzströme eingeschleust werden. Es sind sehr unterschiedliche Bücher, aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln geschrieben. Doch ist für beide Autoren ist 1989 ein Schlüsseldatum.
In Palermo war damals mit Leoluca Orlando zum ersten Mal ein Bürgermeister gewählt worden, der der Mafia den Kampf ansagte und sich mit Stadträten und Mitarbeitern umgab, mit denen er am "Frühling von Palermo" arbeitete. Sie stellten sich an die Spitze einer Bewegung, die die gesamte sizilianische Gesellschaft erfasste, und die nach Jahrhunderten der Untertänigkeit und des Schweigens es wagte, den Kopf gegen die Mafia zu erheben. Die Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino gründeten einen Antimafia-Pool, der die ersten erfolgreichen Maxi-Prozesse gegen die "Cosa Nostra" - wie sich die sizilianische Mafia selbst nennt - führte. Sogar Mitglieder mafioser Familien fassten den Mut, sich gegen die eigenen Verwandten aufzulehnen, etliche sagten als Kronzeugen vor Gericht aus.
Der "Frühling von Palermo" war aber nicht von langer Dauer. Als das alte, von der Christdemokratischen Partei dominierte Parteiensystem Italiens in einer Reihe von Korruptionsskandalen zusammenbrach, während die Auflösung des Ostblocks die italienische Linke in eine tiefe Identitätskrise stürzte, fanden sich die italienischen Mafias in einer neuen politischen Konstellation wieder, in welcher sie noch ungenierter als früher operieren durften. 1992 wurden die Staatsanwälte Falcone und Borsellino in spektakulären Anschlägen von der Mafia ermordet. 1993 schloss Bernardo Provenzano, damals Oberboss der sizilianischen Mafia und seit Jahrzehnten flüchtig, einen Pakt mit Berlusconis Adlatus und Erfinder der Partei "Forza Italia" Marcello Dell'Utri: Provenzano versprach das Ende der Gewalt gegen Staatsvertreter - im Gegenzug forderte er, dass der Strafverfolgung einen Riegel vorgeschoben würde.
Die Folgen schildert Petra Reski unumwunden. Der inzwischen dreimal gewählte Silvio Berlusconi ist Provenzanos Forderung offensichtlich nachgekommen: Die Hochsicherheitshaft für Mafiosi und die lebenslängliche Haft existieren in Italien de facto nicht mehr. Die Kronzeugenregelung, die sich als das wirksamste Mittel gegen die Mafias erwiesen hatte, wurde geschwächt. Die Staatsanwälte aus Palermos AntimafiaPool werden seit Jahren durch Mittelkürzungen und Strafversetzungen an ihrer Arbeit gehindert, als "rote Roben" diffamiert oder gar als "geistig gestört und anthropologisch anders als der Rest der Menschheit", wie sich Silvio Berlusconi ausdrückte, verunglimpft.
In Palermo regiert eine Triade, die aus Vertrauten des Senators und Europa-Parlamentariers Marcello Dell'Utri besteht. Nach den Akten der Anklage eines achtjährigen Prozesses, der mit seiner Verurteilung wegen Mafia-Begünstigung endete, war Dell'Utri seit den 70er-Jahren als Vermittler der Cosa Nostra im Norden Italiens tätig. In erster Linie im Hause Berlusconis. Inzwischen ist die Mafia, früher Kontrahentin des Staates, selbst Teil des Staatsapparats und der Wirtschaftselite geworden. Als Wirtschaftsakteurin geht sie weit über die Grenzen Italiens ihren Geschäften nach.
Eine ähnliche Entwicklung auf dem internationalen Parkett beschreibt Misha Glenny in seiner vor Fakten, Daten und Details strotzenden Dokumentation "McMafia". Es wirkt wie ein Streich der Geschichte, dass diese Entwicklung ausgerechnet mit Gorbatschows Perestroika ihren Anfang nahm.
Als der sowjetische Staatschef 1988 ein Gesetz erließ, das nach 60 Jahren Staatsmonopol die Gründung von Privatfirmen erlaubte, sprossen im Sowjetreich Privatunternehmer aus dem Boden, die in einem quasi rechtsfreien Raum wirkten. Sobald ein Geschäft lief, schon war die Konkurrenz da - und zu jedem Mittel bereit, um sich in den Markt zu drängen. Da die sowjetische Polizei von den neuen Umständen schlichtweg überfordert war, es außerdem keine Gesetze gab, die den frisch entstandenen freien Markt regulierten, wandten sich die Neukapitalisten an die so genannten "gruppirowki", die Straßenbanden, damit diese sie und ihre Geschäfte vor den Rivalen schützten. Zehn bis 30 Prozent ihres Umsatzes übergaben sie bereitwillig den "Beschützern", um von den "gruppirowki" im Dienst der Konkurrenz behütet zu werden. Die Schutzgelderpressungskartelle, die auf diese Weise entstanden, waren von Anfang an ein wesentlicher Faktor des neuen russischen Kapitalismus.
Die Lage verschärfte sich nach dem versuchten Staatsstreich von 1991 und dem Aufstieg Boris Jelzins an die Macht. Jelzin gab zum 1. Januar 1992 alle Preise frei - nur nicht jene für Waren, die eine Minderheit von Unternehmern interessierten: Russlands Bodenschätze, Öl, Gas, Diamanten und Metalle. Während die breiten Massen durch die Preisliberalisierung in Armut gestürzt wurden, konnte eine kleine Gruppe von Händlern Rohstoffe zu staatlich subventionierten Niedrigpreisen kaufen, um sie dann im Ausland zu Weltmarktpreisen zu verkaufen. Es war die Geburtsstunde der Oligarchen: eine Clique von Männern und Frauen, die sich ungehemmt am ehemaligen Volkseigentum bereichern durften, innerhalb weniger Jahre zu Megamilliardären aufstiegen, und einen immer stärkeren Einfluss auf die russische Politik ausübten. "Diese Bereicherung war schlicht und einfach der größte Diebstahl der Menschheitsgeschichte", schreibt Misha Glenny.
Die Liberalisierung der internationalen Finanz- und Warenmärkte machte es ihnen zudem leicht, das Geld ins Ausland zu schaffen und dort zu investieren, wo es am sichersten und profitabelsten erschien. Nicht nur ihnen. Auch all den Verbrechersyndikaten, auf deren Schutzdienstleistungen die Oligarchen zurückgriffen, half der schrankenlose Weltmarkt zu umstandsloser Geldvermehrung. Und wenn sie neben Schutzdienstleistungen und Finanzgeschäfte auch noch Drogen-, Waffen-, Frauen- und Sklavenhandel betrieben - wer sollte ihnen das Handwerk legen?
Das organisierte Verbrechen, das zeigt Misha Glenny eindrücklich am Beispiel der ehemaligen Ostblocksstaaten, ist der große Gewinner im Machtvakuum gewesen, das sich in der Übergangsphase von einem staatlich kontrollierten Wirtschaftssystem zur freien Marktwirtschaft auftat. Es hat aber auch im weltweit liberalisierten Finanz- und Warenmarkt das fruchtbare Terrain gefunden, auf dem es gedeihen konnte. Jetzt wäre es an der Weltgemeinschaft, allgemeine, über alle Grenzen hinweg verbindliche Regeln des wirtschaftlichen Handelns zu statuieren. Sonst winkt ihr die fröhliche Freiheit des globalen Mafia-Staates.
McMafia. Die grenzenlose Welt des organisierten Verbrechens.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008; 528 S., 24,95 ¤
Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern.
Droemer Verlag, München 2008; 336 S., 19,95 ¤