USA
Sudhir Venkateshs Vergleich zwischen Privatwirtschaft und Bandenkriminalität
Wenn es hier sechs Monate "keine Belästigungen, keine Schießereien und keine Toten" gibt, dann kann man das schon als Erfolg verbuchen. Zumindest sieht das Ms Bailey so, ihres Zeichens "Building President" in einem der heruntergekommenen Betonbunker der Robert-Taylor-Siedlung im Herzen von Chicago. Wo mehr als 90 Prozent der fast hundertprozentig schwarzen Bewohner ohne Job sind. Offiziell. Inoffiziell floriert hier freilich das Geschäft mit Huren, Crack und Knarren. Gemanagt und geschützt von Banden, deren Anführer wir uns wie die Gangsta Rapper auf MTV vorstellen dürfen: als Gorillas mit Goldkettchen.
Ein genaueres Bild hatte auch der "Mittelschicht-Naivling" Sudhir Venkatesh nicht, als er sich Ende der 1980er-Jahre aus dem sonnigen Kalifornien aufmachte, um die "Underground Economy" in einem Chicagoer Armenviertel zu studieren. Unbedarft, neugierig aber auch ehrgeizig wie der damalige Soziologiestudent war, verließ er das sichere Uni-Gelände und begab sich auf das unsichere Terrain des bekannt brutalen Ghettos, um sich einen lebendigen Eindruck vom Alltag der "Armen und Ausgeschlossenen" zu verschaffen. Bloß mit einem Klemmbrett und Dutzender akademischer Fragen bewaffnet, auf die er so gut wie keine Antworten, aber dafür umso mehr Prügel angedroht bekam.
So paradox es auch scheinen mag. Vermutlich war es gerade seine entwaffnende Naivität, die ihm dort das Vertrauen des Bandenchefs J. T. und der von ihm drangsalierten "Community" einbrachte. Ohne seine tatsächliche, aber vielleicht auch nur gespielte Unbekümmertheit hätte er wahrscheinlich nie erfahren, dass dieses Chaos nicht nur von Gewalt, Erpressung und Betrug, sondern auch von Fürsorge, Mitgefühl und Solidarität beherrscht wird. Was sich auf den ersten Blick auszuschließen scheint, bedingt sich beim genaueren Hinsehen. Denn das Drogengeschäft läuft nur gut, wenn es in der Gegend ruhig und die Dealer unauffällig bleiben. Weshalb J. T. als Manager der etwa 250 Mann starken Crack-Gang nicht nur regelmäßig die Peitsche schwingt, sondern auch ganz gezielt Zuckerbrote verteilt. Und zwar auch an die eben erwähnte Ms Bailey. Damit versorgt sie nicht nur sich und die friedlichen Hausbewohner mit warmer Kleidung und Essen, sondern lässt dafür seine Jungs auch in den Treppenhäusern ungestört dealen. Das durch und durch kriminelle System aus Geben und Nehmen dient letztlich nur einem Zweck: dem Überleben in der Hölle.
Zweifellos liefern seine hautnahen Erlebnisse tiefere Einblicke in diesen autonomen Moloch als jede preisgekrönte Sozialreportage oder jede noch so clever interpretierte Sozialstatistik. Dank seines "Tatsachenberichts" sind wir näher dran an den Frauen, die ihre Körper für zehn Gramm Crack oder eine Monatsmiete feilbieten. Und vielleicht bringen wir nach der Lektüre auch mehr Verständnis für die Schulabbrecher auf, die als Drogendealer mehr verdienen als mit schlecht bezahlten Aushilfsjobs. Doch dass Gangs und Unternehmen mehr miteinander gemein haben sollen, als eine straffe Hierarchie oder Bonuszahlungen kann der heute an der New York University lehrende Soziologieprofessor nicht glaubhaft darlegen. Dazu ist er dieses ungewöhnliche Projekt zu emotional und zu wenig rational angegangen. Ohne theoriegeleitete Kriterien lässt sich der im Untertitel des Buches hervorgehobene Vergleich von Privat- und Kriminalwirtschaft nicht seriös anstellen.
Seine soziologisch wie menschlich einzigartigen Beobachtungen und Erfahrungen zeigen aber, dass es in den USA nicht nur an neuen systematischen Studien zu alten systemischen Problemen fehlt. Sie zeigen auch, dass es mit der Erhöhung der Sozialausgaben allein nicht getan wäre. Politiker, Polizisten und Sozialarbeiter müssen wie Venkatesh das Vertrauen der Ghettobewohner gewinnen, um die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.
Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben.
Econ Verlag, Berlin 2008; 331 S., 18 ¤