Marko Martin
Der Schriftsteller über sein Asien-Buch, diktatorische Regime und westlichen Selbsthass
"Sonderzone - Nahaufnahme zwischen Teheran und Saigon", lautet der Titel Ihres neuen Buches, einer Sammlung politischer Reisereportagen aus Südostasien und dem Iran. Was verstehen Sie unter "Sonderzonen"?
Es geht um Freiräume, die sich Menschen in Diktaturen der unterschiedlichsten Couleur erkämpfen und ertrotzen, jenseits der jeweiligen staatlichen Dogmen und ideologischen Rahmenbedingungen. Diese Sonderzonen und deren Bewohner sind permanent gefährdet. Einerseits durch die dort herrschenden Regime, andererseits aber auch durch eine gewisse Ignoranz in der westlichen Welt, besonders in der medialen Berichterstattung. Bei diesen Zonen handelt es sich jedoch nicht nur um eine apolitische Boheme oder gar um eine gehätschelte, augenzwinkernd geduldete Staatsopposition, sondern um geistige Freiräume, die im schönsten Wortsinn subversiv sind - ohne dass sich dies freilich immer auch politisch manifestiert.
Diese Sonderzonen sind der rote Faden ihres Buches, der von Land zu Land führt?
Vermutlich. Allerdings ist mir dies erst im Nachhinein, beim Zusammenstellen der Texte, bewusst geworden. Die Reisen beginnen 2001 in Kambodscha und Vietnam. Ich hatte damals noch nicht die Absicht, aus diesen Reportagen ein Buch zu machen. Bei der nochmaligen Durchsicht der Texte ist jedoch noch einmal aufgefallen, dass mich eigentlich immer die minoritären Aspekte einer Gesellschaft interessiert haben, Wirklichkeiten, die noch nicht völlig gleichgeschaltet waren. Erinnerungsräume etwa an die Schrecken der Pol Pot-Zeit oder auch etwas scheinbar völlig Peripheres wie die weiterlebende Nostalgie nach französischer Lebensart in Indochina.
Haben diese Sonderzonen Erinnerungen an Ihre Kindheit und Jugend in der DDR geweckt?
Ich habe Ähnlichkeiten entdeckt, besonders im Lebensweltlichen. Das heißt, dass oft -so etwa in Birma oder im Iran - die Staatsmacht genauso furchterregend und tumb, durchschnittlich und herrschaftstechnisch vorläufig effizient, ebenso grau und lebensfeindlich auftritt wie einst die SED- Funktionäre mit ihren Hornbrillen damals in der DDR. Man sollte solche Wiederkennungseffekte aber nicht überstrapazieren. Andernfalls besteht die Gefahr einer biografischen Über-Prägung, die auf alles gestempelt wird, was man erlebt.
Den Iran haben Sie im Jahr 2003 berreist. Was haben Sie dort jenseits der westlichen Berichterstattung erfahren?
Im Iran hatte ich das Glück, für eine Weile in die Tage und Nächte der jungen Ober- und Mittelschicht, der Jeunesse Dorée, eintauchen zu können - mitsamt all ihrer verfeinerten Lebensart, aber auch ihrer sozialen Arroganz und politischen Ignoranz. Ein Lebensstil, der sich trotz der repressiven Rahmenbedingungen an der Oberfläche kaum von dem unsrigen zu unterscheiden scheint, in Wahrheit aber einen verzweifelt-rasanten Tanz auf dem Vulkan darstellt. Gewiss war zuvor mein Iran-Bild davon geprägt gewesen, was man in den hiesigen Medien liest - übrigens fast immer stimmige Berichte, aber eben nur Teile im Puzzle dieser vielschichtigen Gesellschaft.
"Mit den Augen des Westens", haben Sie das Vorwort zu Ihrem Buch überschrieben. Ist der Blick des Westens auf die übrige Welt inzwischen etwas eingetrübt?
Der erwähnte Titel ist einem Roman Joseph Conrads entlehnt, in dem ein alter englischer Sprachlehrer die Gemeinde der Exil-Russen in Zürich beschreibt, während der Zarenzeit. Seine "Augen des Westens" waren ungläubig gegenüber dem Ausbruch von Irrationalität und Gewalt - sowohl bei den Zarengegnern als auch beim Regime selbst. Ich habe mir in einer kleinen dialektischen Drehung erlaubt, daran zu erinnern, dass dieser okzidentale Blick keineswegs immer auf Demokratie geeicht ist. In den Augen moderner Kulturrelativisten muss jedenfalls für beinahe alles so genannt "Exotische" erst einmal Verständnis geäußert werden - eine fragwürdige Toleranz-Attitüde, deren kalte Konsequenz freilich lautet: Belästigt uns nicht mit dem Unrecht in anderen Teilen der Welt. Die in diesem Zusammenhang so oft dahin geplapperte Binsenweisheit, dass schließlich bei uns auch nicht alles Gold sei, was glänze, bedeutet in Klarschrift: Lasst uns gefällig zufrieden mit dem Leid anderer Menschen, auch wir haben unsere Problemchen. Dies habe ich im Vorwort durchaus polemisch aufgegriffen und mit Zitaten bekannter Zeitgenossen belegt, von Alice Schwarzer bis Helmut Schmidt.
Besteht aber nicht die Gefahr, als überzeugter Westler einen ideologisch erstarrten Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der nichtwestlichen Welt zu werfen?
Nun, ich glaube, dass man sich leicht auf gewisse Grundsätze einigen kann. Niemand etwa möchte aufgrund seiner politischen Meinung, seiner ethnischen und sexuellen Identität oder seiner Religionszugehörigkeit verfolgt oder gefoltert werden. Dieser Wunsch verbindet Menschen in allen Kulturkreisen. Hat man sich in der Debatte erst einmal auf diese noch immer nicht durchgesetzten Selbstverständlichkeiten geeinigt, entfällt auch die akademische Erbsenzählerei, wie viel oder wie wenig westlicher Parlamentarismus es denn für diese Gesellschaften sein darf.
Wie steht es um die Ausstrahlungskraft des Westens? Hat sie ihren Höhepunkt bereits überschritten?
Wenn man zu Grunde legt, in welche Richtung die weltweiten Migrationsströme verlaufen, ist die Strahlkraft des Westens doch wohl ungebrochen. Was jedoch gleichzeitig beobachtet werden kann, ist eine gewisse Müdigkeit in den westlichen Metropolen selbst.
Eine Müdigkeit bezüglich des eigenen Selbstbehauptungswillens oder des Sendungsbewussteins?
Sowohl als auch. Wir haben partiell eine Situation, in der die westliche Selbstkritik - die Antriebsfeder der geistigen Mobilität unserer Gesellschaften - zum selbsthasserischen Monolog-Gebrabbel verkommt, das ironischerweise eher den zynischen Tischgesprächen morbider Kolonialisten entspringt als tatsächlich skrupulöser Analyse. Den Rechten ist der Westen zu hedonistisch und schlaff, den Linken zu kalt und den Wirtschaftsliberalen zu sozialstaatlich. So trägt jede dieser Ideologien dazu bei, Denunziation zu betreiben und klammheimlich auf eine anscheinend nicht mehr zu bremsende Modernisierungs- und Arbeitslagerdiktatur á la China zu starren. Sie sehen, derlei bringt mich durchaus in Rage.
"Wer nicht reist, kennt den Wert des Menschen nicht", lautet ein Zitat von Ibn Batuba, dem großen Chronisten der islamischen Welt. Hat dieses Zitat noch heute Gültigkeit?
Mit Sicherheit. Durch den Vergleich schärft sich nicht zuletzt die Wahrnehmung der eigenen Lebensumstände. Ich gestehe, von vielen Reisen viel dankbarer in jene Welt zurückzukehren, in der ich lebe. Weil der Wes-ten - trotz aller Differenzen hier einmal als politische Einheit betrachtet - in all seinen Mängeln und Schwächen etwas ganz Besonderes ist.
In der gesamten Menschheitsgeschichte ist dieser Westen, so wie er sich heute darstellt - wohlhabend, mehr oder weniger der Idee der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, diese jedoch basierend auf individuellen Freiheitsrechten - ein bisher einmaliges Phänomen. Quasi "unnatürlich", dem Naturrecht des Stärkeren den Gedanken von Einzelrechten, Minderheitenschutz und institutionellen Regeln entgegengesetzt. Wenn das kein durch und durch faszinierendes Abenteuer ist, nicht zuletzt im Bereich der Geistesgeschichte...
Auch wenn sich dies jetzt wie eine banale Apologie anhört: Es sind, davon bin ich fest überzeugt, Millionen und Abermillionen von Menschen, die sich nach dem sehnen, was wir immer gelangweilter als selbstverständlich hinnehmen. Etwas, was ich deshalb nie vergessen werde, sind die leisen, eindringlichen Worte eines Reiseführers in der alten iranischen Kaiserstadt Persepolis: "Doch wir sind frei geboren und haben Träume. Auch wir!"
Das Interview führte Ramon Schack.
Sonderzone. Nahaufnahmen zwischen Teheran und Saigon.
Zu Klampen Verlag, Springe 2008; 159 S., 13,20 ¤