Gerichtsgutachter
Hans-Ludwig Kröber ermittelt, ob Schwerverbrecher nach dem Gefängnis weiter gefährlich sein werden
Ins Gefängnis zu gehen ist für die Meisten eine Strafe. Nicht für Hans-Ludwig Kröber. Für ihn ist der Knast ein spannendes Extra, das er sich gönnt, wenn alles andere geschafft ist. Kröber ist Universitätsprofessor, Leiter des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität in Berlin. Aber immer wieder verlässt der 57-Jährige die Welt, die das Verbrechen nur als unvorhergesehene Störung des Gewohnten kennt, und geht ins Gefängnis. Nicht unbedingt ein Ort, an dem man sich ihn leicht vorstellen könnte, mit seinen grauen Locken, randloser Brille, ein bisschen Bauch unter dem weißem Hemd und dem warmen Lachen.
Kröber ist einer der gefragtesten Gerichtsgutachter in Deutschland: Er soll ermitteln, wie groß das Risiko ist, dass Täter Verbrechen wiederholen. Er begutachtete die Frau, die ihre kleine Tochter Jessica über Jahre hinweg langsam verhungern ließ. Den Mann, der in Leipzig den neunjährigen Mitja missbrauchte und ermordete. Mörder, Vergewaltiger, Bankräuber, Zuhälter, Dealer: "Interessante Menschen" nennt Kröber sie, "Menschen, an die ich sonst nie herankommen würde, ohne vor Angst zu sterben". Mit denen kann er sich - kraft seines Amtes - in aller Ruhe unterhalten. Er gewinnt sogar "eine gewisse Vertrautheit." So dringt er vor in die angstbesetzten Regionen, die ihn reizen. Wie ein Krimi-Leser, der sich immer wieder mit dem Verbrechen konfrontiert. Nur eben in echt.
Und diese Menschen öffnen sich: "Man kennt sich nicht, und doch kommen sie mit den größten Sorgen", erzählt Kröber. Er nennt das ein Wunder, auch nach bald 30 Jahren in diesem Job. Er ist Professor, er kann das theoretisch erklären: "Die Situation ist zwar artifiziell, aber sozial bekannt", sagt er, "du gehst zum Arzt und lässt die Hosen runter." Dabei hilft, dass er vorher die Akten gelesen hat, dass er schon viel weiß, bevor er zum ersten Mal fragt. "Das honorieren die Leute. Sie spüren das Interesse."
Von Nachteil ist, dass alle wissen, dass von diesen Gesprächen viel abhängt. Mancher versucht, eine psychische Störung zu simulieren und hofft, dadurch das Urteil zu mildern. "Wenn man dann nachhakt, ihn ins Kreuzverhör nimmt, dann streckt der meist schnell die Waffen", sagt Kröber. Selbst für einen Psychiater sei es schwierig, eine solche Störung vorzutäuschen. Das, was man in den Gesprächen über die wirklichen, die eigenen Themen des Lebens erfährt, sei weitgehend fälschungssicher.
Er geht ohne Aufnahmegerät ins Gespräch, nur mit einem Block für Notizen, die er gleich anschließend diktiert. Der Psychiater als Filter. Was zählt, ist Kröbers Bild von dem Menschen, und nicht das, was der Mensch tatsächlich gesagt hat. Denn er soll begutachten, ob dieser in Sicherheitsverwahrung gehört, wenn der eigentliche Strafvollzug endet. Oder ob davon auszugehen ist, dass er keine weiteren Verbrechen begeht. Eine schwierige Frage. "Denn die meisten Menschen begehen Verbrechen ja nicht am Fließband. Sondern mit langen Pausen. Möglicherweise ausgelöst durch bestimmte Ereignisse in ihrem Leben."
Ein Beispiel: Der "Sado-Maurer von Kaulsdorf", ein Mann, der unter dem Keller seines Hauses einen weiteren Keller ausbaute mit allem, was man braucht, um Menschen zu quälen: Peitschen, Ketten, Stahl. "Ich dachte", sagt Kröber, "so etwas gibt es nur im Film." Doch diesen Mann lernte er kennen. Der hatte sich von der S-Bahn weg eine Frau geschnappt und in den Keller geschleppt, um sie dort zu seiner persönlichen Bedürfnisbefriedigung zu halten. Es gibt Fotos von diesem Studio, sie lagen auf Kröbers Schreibtisch. "Sex-Sklavin", stand auf einem Schild an der Tür.
Warum macht einer so etwas? Ein Blick in die Akten zeigt: Mit zwölf hat der Mann zum ersten Mal ein Mädchen vergewaltigt, mit 21 zwölf Frauen in kurzer Zeit. Er wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, kam raus, überfiel ziemlich bald wieder eine Frau, landete in der geschlossenen Psychiatrie. Dort wurde er ein Jahr später als geheilt entlassen. Man hörte nichts mehr von ihm. Bis zu dem Drama in Kaulsdorf.
"Jahrelang hat der an seinem Keller gebastelt und weiter nichts angestellt", sagt Kröber. Und möglicherweise wäre das auch weiter so gegangen. Doch dann geriet das Leben des Mannes aus den Fugen. Auslöser war der Schlaganfall der Mutter, mit der er in einer pathologischen Beziehung im gleichen Haus lebte. "Und alles, was da an zwischenzeitlichem Halt hergestellt worden war, fiel zusammen." 14 Tage später macht er wahr, was bis dahin nur in seinem Kopf war: Er zieht die Frau in den Keller.
Darf so einer wieder auf freien Fuß? "Da haben natürlich alle Bedenken", sagt Kröber, "obwohl es im Einzelfall sein kann, dass der nie wieder etwas tut. Aber es kann genauso gut sein, dass der im Abstand von Jahren wieder einen Plan umsetzt." Ja, es war eine spezielle biografische Situation, die zum Auslöser wurde. Aber nein, man kann nicht vorhersagen, ob es nicht doch wieder eine Krise gibt, die ihn destabilisiert. "Da behilft man sich beim Abwägen mit der Relation von der Größe der Gefahr", erläutert der Forensiker. Sprich: "Wenn sehr große Verbrechen möglich sind, wenn einer rückfällig wird, dann muss auch die Sicherheit groß sein."
Dass der Fokus so stark auf der Sicherungsverwahrung liegt, ist relativ neu. "Noch Mitte der 90er Jahre kam das Thema oft nicht mal zur Sprache. Da saß ich manchmal im Gerichtssaal, schüttelte den Kopf und dachte: Da ist doch rechtlich noch viel mehr möglich."
Aber die Prozesse verliefen damals auch anders: Die Verteidiger versuchten, auf "vermindert schuldfähig" zu plädieren. Jetzt geht die Tendenz ins andere Extrem: Das Instrument der Sicherungsverwahrung wird ausgedehnt, die Zahl der auch nach der Haft festgehaltenen steigt seit Jahren. Die zentrale Frage an die Gutachter lautet: Wie gefährlich ist einer? Wie groß ist das Risiko der Wiederholung? Die Vorgeschichte, die Gründe, warum einer Verbrechen begeht, treten zurück. "Heute atmen die Medien auf, wenn neben der lebenslangen Haft noch die Sicherungsverwahrung angeordnet wird", sagt Kröber, "als sei damit gewährleistet, dass der Mann nie wieder frei kommt."
Im Juni beschloss der Bundestag, die Sicherungsverwahrung auch auf Jugendliche anzuwenden. Anders als bei Erwachsenen wird dies aber nicht im Urteil vorgegeben, sondern erst nachträglich angeordnet und jedes Jahr überprüft. Reicht das? "Nu' lass mal gut sein", ruft Kröber jenen zu, die noch mehr wollen. Natürlich würde man am liebsten schon vor der ersten Tat die Verbrechen verhindern. Doch muss man beachten: "Je weniger Vorgeschichte bis zu dem Moment stattgefunden hat, wo über die Sicherungsverwahrung entschieden wird, desto unsicherer ist die Entscheidungsgrundlage."
Wiederholungstäter gibt es, trotz aller Sorgfalt. Kröber hat sie im Blick. Oft holt er dann die alten Akten wieder vor, prüft die Gutachten, die eigenen und die von Kollegen. "Ja, man kann eines Schlimmeren belehrt werden", sagt er. Aber: Es gibt sehr wenig Fälle in den vergangenen Jahren, wo auf Grund eines schlechten Gutachtens etwas falsch gelaufen ist. Wie bei jenem 19-Jährigen, einem von Kröbers frühen Probanden. Der hatte drei Frauen auf dem Gewissen: Eine hielt er für seine Freundin. Er versuchte, sie zu vergewaltigen, sie wehrte sich, er brachte sie um; und kurz darauf die Schwester, die nach Hause kam, und die Mutter gleich noch mit. Nach den damaligen Kriterien, saß der nach dem Jugendstrafrecht zehn Jahre. "Ich habe oft an ihn gedacht", erzählt Kröber. "Der war so verschlossen, undurchsichtig." Jahre später las er, dass jemand eine 17-Jährige attackiert hatte. Die Beschreibung passte. Die Frau war verletzt, aber sie lebte. Zum Glück. Der Mann kam jetzt hinter Gitter.
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.