Jugendstrafrecht
Vor 100 Jahren entwickelte sich in Deutschland eine eigenständige Gerichtsbarkeit. Deren Leitidee hat trotz aller Diskussionen bis heute Bestand
Zwei Erkenntnisse haben zu einem eigenständigen Jugendstrafrecht geführt: Junge Menschen sind erziehungsbedürftig und prägbar - außerdem nicht voll schuldfähig. Bereits 1532 in der Carolina - der ersten reichsrechtlichen Strafgesetzgebung - wurde diese mindere Verantwortlichkeit junger Täter berücksichtigt. Mit Aufkommen der Sozialwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich dann die Einsicht durch, dass auch Verfahren und Sanktionen auf diese Altersgruppe und die unterschiedlich, oft konfliktreich verlaufenden Übergänge in Selbständigkeit und Erwachsensein zugeschnitten sein müssen.
So entwickelte die Justizpraxis vor einem Jahrhundert eine besondere Jugendgerichtsbarkeit. Am 30. Januar 1908 tagte erstmals ein Jugendgericht in Frankfurt am Main. Nach seinem Vorbild entstanden daraufhin überall in Deutschland Jugendgerichte. Vier Jahre später wurde dann auf Betreiben des Frankfurter Strafrechtlers Berthold Freudenthal in Wittlich Preußens erstes Jugendgefängnis eingerichtet. Der Strafrechtler Franz von Liszt initiierte 1917 in Berlin die Gründung der "Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen".
Aber erst 1923 festigte das Reichsjugendgerichtsgesetz ein eigenständiges Jugendstrafrecht. 1953 wurde es von den Pervertierungen der Nazizeit befreit und reformiert. Das neue Gesetz, das bis heute gilt, wurde auf "Heranwachsende", also zur Tatzeit 18- bis 20-Jährige, ausgeweitet. Sein flexibles Instrumentarium reicht von Erziehungsweisungen und jugendhilferechtlichen Stützen über Zuchtmittel wie Verwarnung und Kurzzeit-Arrest bis zur Jugendstrafe mit der Höchstgrenze von zehn Jahren in einer Jugendgefängnis.
Zweierlei zeigt die Geschichte der Jugendgerichtsbarkeit: Zum einen kann Praxis selbst geltendes Recht modernisieren. Oft eilt sie dem Gesetzgeber jenseits tagespolitischer Debatten - wie etwa zu Beginn des Jahres - voraus. Wenn sich das Neue bewährt, wird es verallgemeinert oder sogar Gesetz.
Zum anderen hat sich das Jugendstrafrecht als "Schrittmacher" für eine Fortentwicklung des Erwachsenenrechts erwiesen. So entwickelte sich etwa aus den Frankfurter "Empfehlungen zu bedingter Begnadigung" die spätere Strafaussetzung mit Bewährungshilfe für junge, später auch für erwachsene Täter. Aber auch der Täter-Opfer-Ausgleich, gemeinnützige Arbeit oder der Vollzug des Freiheitsentzugs in offeneren Formen wurden zunächst in der Jugendstrafrechtspraxis erprobt.
Doch wo steht das Jugendstrafrecht heute, und wie sind politische Forderungen nach seiner Verschärfung zu beurteilen? Erziehung als Leitidee des Jugendstrafrechts steht immer wieder auf dem Prüfstand. Radikal-liberal denkende Wissenschaftler wollen diesen Ansatz im Jugendstrafrecht beseitigen, weil Erziehungsziele nicht festgelegt und willkürlich interpretierbar seien. Der Erziehungsgedanke diene bloß als "trojanisches Pferd", um freiheitsbeschränkende Eingriffe zu legitimieren. Konservative, die abschreckende Wirkung harten Strafens überschätzende Politiker monieren dieses Recht dagegen als zu milde, als "Kuschelpädagogik". Juristentag, Jugendgerichtsvereinigung, politische Parteien und Wissenschaftsgremien haben sich dennoch entschieden, am Erziehungsgedanken festzuhalten.
Insgesamt hat sich das Jugendstrafrecht bewährt. An manchen Stellen ist es sicher zu justieren. Zu sinnvollen Forderungen gehören eine zügigere Arbeit von Polizei und Justiz zwischen Tat und Urteil, befristetes Fahrverbot, einige wenige geschlossene Einrichtungen für kindliche Intensivtäter. Erziehungscamps in freier Trägerschaft als Vorstufe einer (Wieder-)Eingliederung in normale Wohn-, Ausbildungs- und Verhaltens- welten, ja sogar eine Erhöhung der Strafobergrenze auf 15 Jahre bei Kapitaldelikten sind zu diskutieren. Doch vergessen sollte man nicht die vorrangige Prävention: Schulsozialarbeit, Deutschkurse für Zuwanderer oder Ganztags-Schulangebote sind wichtig, um Integration zu fördern, man muss auf Schulschwänzen und Gewalt in der Schule reagieren und einem Abgleiten in Chancenlosigkeit, Randständigkeit und Kriminalität vorzubeugen.
Mit dem Erkenntnisstand unvereinbar erscheinen dagegen Forderungen nach einem "Warnschussarrest" zu Beginn einer Bewährungszeit. Ohnehin fehlt ein sinnvolles Konzept für den Jugendarrest. Rückfallquoten danach sind höher als nach sozial stützenden Maßnahmen in Freiheit, wie Bewährungshilfe und gemeinnütziger Arbeit.
Schockinhaftierungen, "boot camps" und Gefängnisprobierprogramme haben sich in den USA als ungeeignet erwiesen. Sinnlos erscheint es darüber hinaus, 18- bis 20-Jährige grundsätzlich nach Erwachsenenrecht zu verurteilen. Oft haben gerade heranwachsende Gewalttäter erhebliche soziale und emotionale Defizite, denen mit jugendstrafrechtlichen Mitteln besser entsprochen werden kann. Bestehen solche Defizite nicht, können junge Täter schon heute, nach geltendem Strafrecht, wie Erwachsene verurteilt werden.
Insgesamt würde es der Debatte nutzen, wenn man sich über realistische Erwartungen an das Erziehungsziel verständigen würde. Zu oft wurden leider wirklichkeitsferne Vorstellungen geäußert: Ein Jugendrichter bezeichnete die Jugendstrafe als dem Jugendlichen "gereichte Hand". Der Bundesgerichtshof definiert sie als "stationäre Gesamterziehung". Sogar von "Hotelvollzug" ist die Rede. Man übersieht dabei leicht, dass es sich um Gefängnisse handelt, die unvermeidliche Strafübel zur Folge haben: Entmündigung, soziale Entfremdung, Männlichkeitswahn, Vereinsamung, Verengung des Bekanntenkreises auf "Knastkumpels", das Stigma als "Knacki" nach der Haft. Der Zellenmord von Siegburg vor zwei Jahren spricht Bände.
Der Autor ist emeritierter Professor für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Gießen.