Ausländer
Statistiken sagen das eine, die Wirklichkeit zeigt häufig das Gegenteil
Es ist lange her und klingt doch unheimlich vertraut: Eine härtere Gangart gegen kriminelle Ausländer sei nötig, sagte der damalige CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Michael Glos. Der heutige Bundeswirtschaftsminister stellte ein Eckpunktepapier seiner Partei vor: "Wer das Gastrecht missbraucht, muss unser Land so schnell wie möglich verlassen", hieß es dort. Das war vor der Bundestagswahl 1994.
Zur darauf folgenden Bundestagswahl 1998 forderte die CSU, straffällig gewordene Ausländerkinder zusammen mit ihren Eltern abzuschieben. Ende vergangenen Jahres dann trat der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) mit seiner Äußerung, in Deutschland gebe es "zu viele kriminelle junge Ausländer" abermals eine Debatte zu straffälligen Zuwanderern los. Man kann das Thema durchaus als Evergreen deutschen Wahlkampfgetöses bezeichnen, oder, angesichts der langen Vorgeschichte, als Untoten, der vor den Urnengängen gerne wieder aus der Kiste gezerrt wird. Dies trifft nicht nur auf die Union oder rechtsradikale Parteien zu.
Auch der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte ein Jahr vor seiner Wahl 1998 der Bild am Sonntag: "Man schützt die hier lebenden gesetzestreuen Ausländer nicht, indem man Ausländerkriminalität totschweigt. Wir dürfen nicht mehr so zaghaft sein, bei ertappten ausländischen Straftätern. Wer unser Gastrecht missbraucht, für den gibt es nur eins: raus, und zwar schnell! Polen seien beim Autodiebstahl nun mal "besonders aktiv", Drogenkriminelle kämen "besonders häufig aus Südosteuropa und Schwarzafrika", meinte Schröder. Zuletzt holte Mitte Oktober Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) das Thema wieder hervor und kündigte eine Initiative bei der Innenministerkonferenz für eine leichtere Abschiebung Straffälliger an.
Das Muster ist bis heute das selbe : "Ausländer" sind krimineller als Einheimische, sie müssen härter bestraft und schneller des Landes verwiesen werden. Gewürzt wird die Forderung gerne mit der Behauptung, das Thema sei ein Tabu und die Wirklichkeit noch schlimmer als es die amtliche Statistik zeige. Auch im linken Spektrum hält man die Zahlen für unzuverlässig, allerdings in die andere Richtung: Hier wird die höhere Zahl tatverdächtiger Zuwanderer als Folge von Rassismus und Ungleichbehandlung durch die Polizei ausgemacht.
Was also lässt sich zuverlässig sagen zum Thema? Zunächst, dass es in der Öffentlichkeit längst kein Tabu mehr ist. Als das Magazin Focus in einem langen Artikel 1994 forderte, Ausländerkriminalität "kann nicht länger tabuisiert werden", da konnte es bereits auf mehrere Untersuchungen zurückgreifen. Auch in den amtlichen Statistiken wird der "nichtdeutsche Tatverdächtige" seit langem geführt. Spätestens bei Veröffentlichung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) jeden Frühling taucht die Frage, wie gesetzestreu der Türke, Albaner oder Italiener ist, wieder auf. Ebenfalls seit Jahrzehnten haben etliche Soziologen und Kriminologen zum Thema geforscht und geschrieben.
Weitgehend unumstritten ist: arbeitende Zuwanderer, die fest in Deutschland wohnen, kommen sogar eher seltener mit dem Gesetz in Konflikt als Alteingesessene. Dies gilt nach einem aktuellen Bericht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auch für die Millionen zugewanderter Aussiedler. Der bloße Anteil "nichtdeutscher Tatverdächtiger" an allen Verdächtigen - im vergangenen Jahr waren es 21,4 Prozent - wird gerne genannt, ist aber wenig brauchbar. Er lässt die fast neun Prozent Ausländer in Deutschland viel krimineller erscheinen als sie sind. Denn unter die 21,4 Prozent fallen auch viele Touristen, Durchreisende, Grenzpendler oder Angehörige von Stationierungsstreitkräften, also niemand, den man unter Zuwanderer fassen würde.
Auch die offizielle Polizeistatistik ist vorsichtig geworden: "Die tatsächliche Belastung von hier lebenden Nichtdeutschen im Vergleich zu den Deutschen ist aus mehreren Gründen nicht bestimmbar. (…) Der hohe Anteil ausländerspezifischer Delikte und die Unterschiede in der Alters-, Geschlechts- und Sozialstruktur stehen einem wertenden Vergleich entgegen", heißt es in der Polizeistatistik für 2006.
Ein Jahr später (2007) heißt es in der Polizeistatistik, dass die seit langem in Deutschland lebenden und beruflich integrierten Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit im Kriminalitätsgeschehen Deutschlands eine eher geringe Rolle spielen. Insgesamt habe sich der registrierte Abwärtstrend seit 1998 bei den Tatverdächtigenzahlen der Nichtdeutschen fortgesetzt. So habe sich die Anzahl der Tatverdächtigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gegenüber dem Vorjahr um 2,5 Prozent auf 490.278 reduziert. Dagegen habe es 1.804.605 Tatverdächtige mit deutscher Staatsangehörigkeit gegeben. Allerdings habe es auch 2007 einen hohen Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen bei Straftaten gegeben, die einen hohen Organisationsgrad erfordern.
Wie es um verarmte Migranten und Jugendliche zugewanderter Eltern steht, ist allerdings durchaus umstritten. Einerseits, sagt der Konstanzer Kriminologe Wolfgang Heinz, hätten Untersuchungen gezeigt, dass türkische Realschüler, die keine Gewalt in ihrer Familie erfahren hätten und kein Macho-Denken verträten, ebenso selten straffällig würden wie ihre deutschen Schulkameraden.
Freilich, räumt Heinz ein, sei bei vielen Zuwanderer-Familien Machismo eben weit verbreitet "Wenn Sie die soziale Lage und den Bildungshintergrund berücksichtigen, sind die Unterschiede zwischen Deutschen und Zugewanderten nur noch marginal", sagt der Bielefelder Soziologe Jürgen Mansel.
Andererseits stellt etwa die Berliner Polizei fest, dass rund 70 Prozent der so genannten jugendlichen Intensivtäter, die also mehr als zehn Straftaten im Jahr begingen, eine Zuwanderergeschichte haben. Und der Landesvorsitzende der Hamburger Polizeigewerkschaft, Joachim Lenders, sagte der Zeitung "Die Welt": "Kriminalität durch Täter mit Migrationshintergrund ist ein viel größeres Problem als öffentlich bekannt."
Die Frage ist nur: Wie reagieren? Diese an den Pranger stellen und wieder einmal schnellere Abschiebungen diskutieren? Nein sagen mehr als 1.000 Professoren, Staatsanwälte und andere Fachleute, die in der Koch-Debatte vergangenen Januar eine Resolution von Professor Heinz unterstützten. Härtere Strafen brächten bei Jugendlichen ebenso wenig wie besonders frühe Sanktionen, hieß es da. Sie schreckten mögliche Täter nicht ab und könnten auch die Zahl der Rückfälle nicht verringern - im Gegenteil. Erforderlich sei bessere Bildung und Teilhabe, gerade bei Zuwanderer-Jugendlichen. "Die Straftaten sind Indikatoren für Integrationsprobleme", sagt Heinz.
Eine Unterscheidung nach deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen hilft da immer weniger weiter, denn viele Zuwanderer sind inzwischen eingebürgert oder haben als Aussiedler ohnehin einen deutschen Pass. Die Hamburger Polizeigewerkschaft hat deshalb kürzlich gefordert, den Migrationshintergrund von Tatverdächtigen zu erfassen. Also nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern auch, ob ein Elternteil oder Oma oder Opa aus dem Ausland kamen. Ein Ziel, dem auch Heinz zustimmt, das er allerdings für schwierig zu erreichen hält: "Sie können den Verdächtigen nicht zwingen zu sagen, ob seine Mutter in Amerika geboren wurde."
Das Ziel erscheint dennoch lohnenswert: Eine Kriminalstatistik, die tatsächlich Gymnasiasten aus alteingesessenen Familien mit Gymnasiasten aus Zuwanderer-Familien vergleicht und nicht mit Hauptschülern, würde viel fairer messen und den Einfluss sozialer Unterschiede sichtbar machen. Denn unterschiedlicher Bildungsstand - und damit auch Benachteiligung im Bildungssystem - haben etwas mit der Anfälligkeit für Kriminalität zu tun. So eine Statistik könnte gezielte Hinweise darauf geben, wo die Ursachen für kriminelle Karrieren sind. Und sie könnte womöglich die eine oder andere Legende über Zuwanderer und Straftaten zerstören.
Die Debatten und Medienberichte, die dieses weit verbreitete Bild des kriminellen Ausländers prägten, haben nach Überzeugung von Heinz und Mansel bereits viel Schaden angerichtet. "Es zerstört den sozialen Frieden zwischen Bevölkerungsgruppen", sagt Mansel. Für Heinz hat eine solche Berichterstattung zu einem "Freund-Feind-Verhältnis" geführt, das Integration erschwert.
Genauere Zahlen indes haben schon einmal eine Debatte über Gewaltkriminalität beeinflusst, nämlich die jüngste um Roland Koch. So konnte der Kriminologe Christian Pfeiffer aus Hannover anhand offizieller Statistiken nachweisen, dass ausgerechnet in Hessen die Jugendgewalt in Kochs Regierungszeit besonders stark angestiegen war -und hierfür zu etwa 90 Prozent Deutsche verantwortlich waren.
Diese Zahlen dürften eine Ursache dafür gewesen sein, dass Kochs Thesen über kriminelle Zuwanderer wenig Erfolg zeigten - was weitere Wahlkämpfer erst einmal abschreckt, das Bild des kriminellen Fremden wieder zu beleben.
Der Autor ist Redakteur der "Süddeutschen Zeitung".