Europa
Philipp Bloms beeindruckendes Porträt über den taumelnden Kontinent am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Jede Jahrhundertwende markiert einen Einschnitt im Bewusstsein der Menschheit. Um 1900 aber hatte man in Europa ganz besonders das Gefühl, in eine neue Epoche einzutreten. Viele Angehörige der literarisch-künstlerischen Intelligenz glaubten an die Heraufkunft eines "neuen Menschen", betrachteten sich selbst als "Übergangsmenschen" - eine Wortschöpfung dieser Zeit, die schon ähnlich bei Friedrich Nietzsche, dem populärsten und wirkmächtigsten Philosophen des Zeitalters, vorgeprägt war.
Aber in Wirklichkeit sind wir alle und jederzeit "Übergangsmenschen" im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen den Kräften einer alten und einer neuen Zeit. Wir sind, darauf weist Philipp Blom in seinem neuen Buch über die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts hin, heterogen zusammengesetzte Mentalitäten und Identitäten, konservativ und progressiv zugleich, "gebrochene Persönlichkeiten" heute ebenso wie die Modernen um 1900. Blom hält dieses Persönlichkeitsphänomen selbst für einen Teil der Modernität und zeigt, dass viele der früheren Modernen in mancher Hinsicht ganz konservativ waren - der musikalische Neuerer Strawinsky zum Beispiel in seiner Einstellung zur bildenden Kunst. Niemand war damals "völlig modern", betont Blom und fügt mit Blick auf unsere Zeit hinzu, auch "heute ist es niemand".
Dieses "im Übergang" oder "zwischen den Zeiten" stehen wird für die Menschen besonders spürbar, wenn auf sie in schneller Folge eine Menge epochaler Veränderungen einprasseln. Zwischen 1900 und 1914 war das so, als sich innerhalb weniger Jahre die unterschiedlichsten Kräfte der Moderne und auch Anti-Moderne mächtig regten. In Politik und Wissenschaft, in Literatur, Musik und Kunst, in der Geschlechterbeziehung, auf religiösem und spirituellem Gebiet wurde plötzlich alles in Frage gestellt, was bisher gegolten hatte. Vor allem auch die moderne Technik und Industrie revolutionierten das ganze Leben: Elektrizität und Röntgenstrahlen, Kino und U-Bahnen, Automobile und Flugzeuge. Ständig wurde Neues, Besseres, Schnelleres erfunden. Die Geschwindigkeit, mit der sich alles änderte, machte die Menschen "taumeln", meint Blom: Viele fühlten sich in der Welt der explosionsartig wachsenden Großstädte nervlich zerrüttet. Man sprach sogar, in Anspielung auf die hektische Weltstadt New York, von einer neuen modernen Krankheit namens "Newyorkitis".
Philipp Blom ist es gelungen, den Geist der Zeit um 1910 für den Leser auf geradezu atemberaubende Weise zu vergegenwärtigen. Mit einer "Art Kameratechnik", wie er es nennt, macht er gleichsam historische Schnappschüsse, um "die Dynamik, die Rasanz, die Unmittelbarkeit der damaligen Lebenserfahrung einzufangen". Das geschieht von der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 bis zum Sommer 1914, bevor der Erste Weltkrieg beginnt. Dass Blom dabei zum chronologischen Schema greift, ist keineswegs trivial. Wenn die 15 Jahre in 15 Kapiteln wie Takte eines Metronoms durchlaufen werden, so ist das der Herzschlag der unerbittlich dahineilenden Zeit, die den modernen Menschen im Griff hat und sein Existenzgefühl und seine Existenzangst bestimmt.
Dass Blom diese Darstellung so überzeugend gelingt, liegt nicht zuletzt an seinem erzählerischen Talent. Das Buch ist spannend und lebendig geschrieben, man merkt dass der Historiker Blom auch Schriftsteller ist und regelmäßig für europäische und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften schreibt. Gekonnt kombiniert er essayistische und reportagehafte Elemente mit analytischen Teilen und Zitaten, ergänzt von einem reichen, interessanten, manchmal schockierenden Bildmaterial - zum Beispiel von den Greueltaten der Kolonialmächte in Afrika. Dies alles - Textzitate wie Bilder - wird sorgfältig durch Quellenangaben belegt, was den Gebrauchswert des Buchs noch mal beträchtlich erhöht.
Die Generalthese Bloms in seinem 500-Seiten-Werk läuft darauf hinaus, dass die wesentlichsten Kräfte und Ideen, die das 20. Jahrhundert bestimmten, alle schon zu Anfang dieses Jahrhunderts der Moderne im Kern vorhanden waren und sich in der Folgezeit nur noch entfalteten: "Sozialismus und Faschismus, Kernphysik und Relativitätstheorie, Konzeptkunst und Konsumgesellschaft, Massenmedien und Demokratisierung, Feminismus und Psychoanalyse" nennt Blom als Beispiele und fährt fort: "Vielleicht kann man sagen, dass das 20. Jahrhundert in all seinem Schrecken und seiner Größe lediglich die Träume und Alpträume dieser Zeit in die Wirklichkeit übertragen hat."
In der Tat: In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden Träume und Alpträume zuhauf ausgebrütet von Typen zwischen Genie und Wahnsinn, die im kulturellen Gemenge der großen Städte sich selbst und ihre oft fantastischen Ideen zu verwirklichen suchten - ein Thema in den Werken von Robert Musil und Thomas Mann. Geistige Brutstätten dieser Art im deutschsprachigen Raum waren Wien und vor allem München, dessen Boheme-Stadtteil Schwabing zum Sammelpunkt von avantgardistischen wie konservativen Künstlern und Literaten wurde, von Anarchisten, politisch Rechts- und Linksextremen, religiösen Schwärmern und Esoterikern sowie Libertins und Freigeistern jeglicher Art. "Schwabing war ein Laboratorium der Lebensformen", schreibt Blom. Und somit, kann man ergänzen, eine typische Keimzelle des 20. Jahrhunderts.
Eine der auffallendsten ideologischen und künstlerischen Bewegungen der Zeit war der Futurismus, der lange Zeit bei Intellektuellen eine Art Kultstatus genoss, vielleicht in erster Linie wegen seiner beeindruckenden Malerei. Bei näherem Hinsehen erkennt man aber in seinen Ursprüngen, "diesem seltsamen Eintopf aus Maschinenanbetung, Gewaltverherrlichung, schlecht verdautem Nietzsche (...), rhetorischer Geste und Verachtung von Frauen alle wichtigen Elemente des Faschismus", schreibt Blom. Und zum Beweis zitiert er lange Passagen aus dem berühmten, aber wohl nur von wenigen gelesenen Futuristischen Manifest (1909) des Italieners Filippo Tommaso Marinetti. Nach einem Hymnus auf Rennautos und Geschwindigkeit heißt es da: "Wir wollen den Krieg verherrlichen - diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes (...) Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen (...)."
Eine geistig einflussreiche Figur dieser Zeit war auch Rudolf Steiner, der zu den Idolen der damals überall in Europa aufkommenden esoterischen Szene gehörte. Als Begründer der Anthroposophie in Deutschland war Steiner der Guru einer riesigen Jüngergemeinde. Bis heute steht er als geistiger und geistlicher Ahnherr bei den deutschen Anthroposophen in hohem Ansehen. Steiners angebliche Schauungen der transzendenten Welt und übersinnlichen Erfahrungen wurden allerdings von etlichen seiner Zeitgenossen kritisch beurteilt, etwa von Albert Einstein ("Hokuspokus") oder Hermann Hesse ("ungenießbar"). "Bedenken Sie doch diesen Unsinn: Übersinnliche Erfahrung. Wenn schon nicht Augen und Ohren, aber irgendeinen Sinn muss ich doch gebrauchen, um irgend etwas zu erfahren", echauffierte sich Einstein.
Was auf die Gestalt Steiners einen Schatten wirft, ist indes weniger seine obskure Esoterik. Bedenklich ist vielmehr - was heute die wenigsten Steiner-Jünger wahrhaben wollen - dass dieser "traurige Prophet" und "selbsternannte Visionär" (Blom) ein ausgesprochener Rassist war, der die Überlegenheit der "arischen" weißen Rasse predigte und die Minderwertigkeit der Schwarzafrikaner, der "triebhaften Neger". Steiner siedelte die "Neger" in seiner hierarchisch aufgebauten Rassenlehre knapp über, manchmal sogar unterhalb der Stufe von Tieren an. Das erweist Steiner als einen Geistesverwandten des national-sozialistischen Rassenwahns und arischen Herrenmenschentums. Freilich hatten sich damals die Ideen von Rasse und Volk in vielen Köpfen festgesetzt, selbst Intellektuelle waren nicht frei davon. Das betrifft auch den weit verbreiteten Antisemitismus.
Dass Rudolf Steiner und andere rassistische Esoteriker (Liebenfels, List) von Blom als "Mystiker" bezeichnet werden, ist allerdings ganz verfehlt, ein arger Missgriff. Es zeugt von Unkenntnis des Wesens der Mystik. Ein kleiner Makel in diesem sonst ausgezeichneten Buch.
Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 - 1914.
Carl Hanser Verlag, München 2009; 528 S., 25,90 ¤