Die Bundesrepublik Deutschland hat Geburtstag. Am 23. Mai wurde sie 60 Jahre alt. Was damals niemand zu hoffen wagte: Die Geschichte dieses Staates geriet zu einer Erfolgsstory. Das Volk, das für die schrecklichen Verbrechen der Nazidiktatur den Preis von Zerstörung, Leid und Teilung zu zahlen hatte, baute eine freiheitliche, offene und stabile Demokratie auf, die trotz aller Krisen und Fehler weltweit als vorbildhaft gilt. Als Zentrum unserer Demokratie hat der Deutsche Bundestag an dieser Entwicklung entscheidenden Anteil. Sechs Jahrzehnte Bundesrepublik – ein Rückblick auf fast schon Vergessenes. Und ein Ausblick auf neue Herausforderungen.
Es war ein schöner Frühlingstag in Bonn am Montag, dem 23. Mai 1949. Die Kastanien blühten, der Rhein glänzte in der Sonne. Nur ein paar Meter entfernt vom deutschen Schicksalsfluss verabschiedete der Parlamentarische Rat an diesem Tag das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. „Heute beginnt ein neuer Abschnitt in der wechselvollen Geschichte unseres Volkes”, befand Konrad Adenauer, der Präsident des Parlamentarischen Rates und spätere Bundeskanzler, mit feierlicher Stimme.
Was Adenauer und mit ihm Millionen von Deutschen nicht ahnen konnten: Aus dem bescheidenen Anfang wurde eine glänzende Erfolgsstory. Heute, sechs Jahrzehnte später und aufgeschreckt durch eine Weltwirtschaftskrise, blicken viele Menschen voller Bewunderung auf eine Zeit zurück, in der es immer nur aufwärts zu gehen schien, zumindest im Westen: Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, staatliche Souveränität, Westintegration und Zusammenwachsen Europas, Aussöhnung mit den Nachbarn, immer neue Freiheiten, schließlich friedliche Wiedervereinigung. Am Ende steht ein ebenso stabiles wie freiheitliches Deutschland, das auch auf der internationalen Bühne eine anerkannte und bedeutsame Rolle spielt. Kein Wunder, dass der 23. Mai 1949, die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland, als Glückstag empfunden wird.
Vor 60 Jahren herrschte bei den meisten Menschen eher Skepsis vor als der Glaube an einen spektakulären Erfolg. Schließlich lag die Stunde Null gerade erst vier Jahre zurück, in der Deutschland seinen tiefsten Fall erfahren, den Krieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus mit der weitgehenden eigenen Verwüstung und der Schmach bezahlen musste, in der zivilisierten Welt als Außenseiter zu gelten. Noch gab es keinen Bundestag, keinen Bundeskanzler; das Sagen hatten die Siegermächte. Die meisten Menschen, zumal die Millionen Flüchtlinge, hatten ohnehin andere Sorgen, waren mit dem täglichen Kampf um Unterkunft, Arbeit und Nahrung beschäftigt.
Sechs Jahrzehnte später gibt der Blick zurück auf die Wurzeln unserer Demokratie fast Vergessenes preis. Er zeigt, was alles gelingen kann, wenn sich eine demokratische, freiheitliche und soziale Grundordnung mit dem Willen einer Gesellschaft paart, anzupacken. Die Integration von Millionen Flüchtlingen, der Lastenausgleich in den 50er-Jahren, der Wiederaufbau nach dem Krieg und später – nach der Wiedervereinigung – das Schultern des Aufbaus Ost und der Eingliederung von 17 Millionen Ostdeutschen in das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem sind Beispiele hierfür. Beispiele, die Mut machen für die großen Herausforderungen, denen sich Deutschland heute in Zeiten der Globalisierung und entfesselter Finanzmärkte gegenübersieht.
Der Erfolg des Grundgesetzes war keineswegs vorgezeichnet. Zunächst bewusst als Provisorium konstruiert – deshalb auch der schlichte Begriff Grundgesetz anstelle von Verfassung –, sollte es Grundlage des politischen und sozialen Neuanfangs im westdeutschen Teilstaat sein. Nichts sollte dabei verbaut, vor allem die Wiedervereinigung nicht gefährdet werden. Dieses in der Präambel vorgegebene Ziel wurde 40 Jahre später erreicht. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist das Grundgesetz vom Provisorium zur allseits anerkannten dauerhaften gesamtdeutschen Verfassung geworden.
Der Weg dorthin allerdings war lang und schwierig. Bundesrepublik wie DDR entwickelten sich auseinander. Hier die rasche Westintegration – die Bundesrepublik wurde Mitglied von Montanunion, Nato und EWG, später der EU – dort die strikte Einbindung der DDR in das totalitäre System des Ostblocks. In der Bundesrepublik mussten Gesellschaft und Politik, gestützt auf die Verfassung und das Parlament, zahlreiche Bewährungsproben bestehen – etwa bei der Notstandsgesetzgebung in den 60er-Jahren, gegenüber dem RAF-Terrorismus der 70er-Jahre und bei den Massenprotesten gegen die Nachrüstung in den Achtzigern. In der DDR beherrschte die Einheitspartei SED das politische Leben.
Der Blick in das Fotoalbum der Republik zeigt zugleich, dass das Grundgesetz zwar den Rahmen vorgab, aber dass es Menschen waren, die die Entwicklung in eine gute Zukunft vorantrieben: Politiker wie Adenauer, Brandt oder Kohl, aber auch viele Deutsche, die in den 50er-Jahren wieder Zuversicht fassten, in den Sechzigern und Siebzigern das Land moderner machten, und die Ostdeutschen, die 1989 riefen: „Wir sind ein Volk!”
Das Grundgesetz hat sich längst als die beste Verfassung bewährt, die Deutschland jemals in seiner Geschichte hatte. Dass der Bundespräsident alle fünf Jahre am Geburtstag des Grundgesetzes, am 23. Mai, gewählt wird, ist das sichtbare Zeichen für die Verpflichtung, die von dieser Verfassung ausgeht.
Nächster Artikel »
Chronik „50er-Jahre bis zur Gegenwart” »
Text Dr. Sönke Petersen
Erschienen am 12. Juni 2009