Das Grundgesetz ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte, sagt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier. Im Interview betont er die Bestandskraft und die Akzeptanz der Verfassung, die 1949 eigentlich als Provisorium gedacht war.
Blickpunkt Bundestag: Herr Präsident, 60 Jahre Grundgesetz – ein Grund zum Feiern?
Hans-Jürgen Papier: Ja, ich denke schon. Es ist ja kein überbordender Verfassungspatriotismus, wenn man feststellt, dass sich das Grundgesetz der Bundesrepublik im Wesentlichen bewährt hat; dass es die beste Verfassung ist, die Deutschland je hatte. Natürlich kann man immer hinterfragen, ob die Verfassung, die in der Zeit steht und sich gegebenenfalls veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen anpassen muss, den Herausforderungen der Zeit noch in jedem Fall gerecht wird. Aber die Kernaussagen in Bezug auf Grundrechtsschutz, Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit sind so gültig wie eh und je.
Blickpunkt: Tatsächlich ist das Grundgesetz in 60 Jahren nur rund 50 Mal geändert worden, das ist nicht übertrieben häufig. Wie kommt es, dass das Grundgesetz so stabil und vorausschauend sein konnte? Eigentlich war es ja nur als Provisorium gedacht.
Papier: Richtig. Das Phänomenale ist, dass sich eine Verfassung, die von den Schöpfern als Provisorium gedacht war, von einer solchen Bestandskraft und Kontinuität erweist. Das ist wohl vor allem auf die Güte dieses Verfassungswerkes zurückzuführen.
Blickpunkt: Nicht nur das Grundgesetz selbst, sondern auch seine Interpretation durch das Verfassungsgericht hat die Bundesrepublik geprägt. Warum haben die Väter des Grundgesetzes dem Gericht eine so einflussreiche Position eingeräumt?
Papier: Das beruht vor allem auf den leidvollen Erfahrungen mit dem Niedergang der Weimarer Republik. Die Weimarer Verfassung kannte ja eine ähnliche Verfassungsgerichtsbarkeit nicht; dort galt der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. Nehmen Sie als Beispiel die Grundrechte: Diese sind keine allgemeinen Verheißungen oder abstrakten Staatsziele mehr, sondern das Grundgesetz hat sie sehr konkret als Grundlage unmittelbar geltender und justiziabler Rechte und – auch das ist neu – als bindend gegenüber dem Gesetzgeber definiert.
Blickpunkt: Nun goutiert die Politik die letztentscheidende Stellung des Gerichts nicht immer. Erst jüngst hat Bundesinnenminister Schäuble Karlsruhe zu starke Einmischung in die Arbeit des Gesetzgebers vorgeworfen.
Papier: Schon ein Blick in die Statistik zeigt, dass man von einer solchen Einmischung nicht sprechen kann. Das Verfassungsgericht besteht jetzt 58 Jahre – es wurde ja erst 1951 geschaffen. In diesen knapp sechs Jahrzehnten wurde nur in 611 von rund 175.000 Fällen ein Gesetz oder eine Vorschrift von Karlsruhe als verfassungswidrig beanstandet. Im Übrigen ertragen wir Kritik gelassen, auch deshalb, weil die Jurisdiktion des Bundesverfassungsgerichts in diesem Land insgesamt akzeptiert und unbestritten ist.
Blickpunkt: Bei der inneren Sicherheit liegt die Sache etwas anders. Hier hat Karlsruhe seit 2002 Gesetze des Bundes und der Länder zur inneren Sicherheit zwölf Mal ganz oder teilweise verworfen. Ist der Bundestag auf diesem Feld ein schlechter Gesetzgeber?
Papier: Man muss anerkennen, dass nach den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten und mit dem Entstehen eines neuen Bedrohungspotenzials die Gesetzgebung entscheiden musste, inwieweit auf die neuen terroristischen Bedrohungen mit neuartigen Überwachungs-, Kontroll- und Sicherheitsinstrumenten zu reagieren war. Das Bundesverfassungsgericht hatte dann zu prüfen, ob bei diesen Neuerungen das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit noch in verfassungsrechtlich zulässiger Weise austariert blieb. Zwar hat es einzelne Eingriffe beanstandet. Allerdings bezog sich dies zumeist nicht auf die Maßnahme an sich, sondern auf ihre Ausgestaltung, wobei teils deren Unverhältnismäßigkeit oder eine zu große Unbestimmtheit des Regelungstatbestandes, teils eine nicht hinreichende Wahrung des Kernbereichs der Privatsphäre beanstandet wurde.
Blickpunkt: Heißt das, die Politik hat auf dem Feld der inneren Sicherheit das richtige Maß verloren?
Papier: Als Vertreter eines Verfassungsorgans verteile ich keine Zensuren an andere Verfassungsorgane und betreibe auch keine allgemeine Gesetzgeberschelte. Ich bin auch zuversichtlich, dass die Gesetzgebung aufgrund der Verfassungsrechtsprechung, die ja in diesen Fragen eine klare Leitlinie zeigt, reagieren wird und die in letzter Zeit aufgetretenen Divergenzfälle wieder abnehmen werden.
Blickpunkt: Herr Präsident, stimmt heute noch der Lehrsatz, dass der Gesetzgeber das Parlament ist? Formal sicherlich, aber entscheiden häufig nicht Lobbyisten und Öffentlichkeit stärker als Abgeordnete?
Papier: Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, wie wichtig es für die Festigung unserer verfassungsrechtlichen Ordnung ist, dass der Parlamentarismus faktisch gestärkt wird. Die Machtstellung der Lobbyisten im Gesetzgebungsprozess ist ebenso unverkennbar wie die starke Exekutivlastigkeit der Gesetzgebung. Dies gilt sowohl bei der nationalen wie bei der europäischen Gesetzgebung
Blickpunkt: Wie ist es mit der Rolle der Parteien bestellt? Haben die zu viel Macht und Einfluss?
Papier: Eine repräsentative Demokratie lebt von der Funktionsfähigkeit der demokratischen Parteien. Die Stabilität der Bundesrepublik beruht zu einem großen Teil auf unserem stabilen Parteiwesen. Die Frage ist allerdings, ob die Einwirkungsmöglichkeiten der politischen Parteien außerhalb der staatlichen und parlamentarischen Willensbildung nicht zu umfassend geworden sind, etwa beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder bei anderen öffentlichen Einrichtungen. Ich finde es wichtig, dass eine interessierte Zivilgesellschaft und Medienöffentlichkeit hier Auswüchsen gewisse Schranken setzt.
Blickpunkt: Zurück zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes. Hat es auch Versäumnisse gegeben? Wäre nicht nach der Wiedervereinigung eine Grundreform angesagt gewesen?
Papier: Nein, das sehe ich nicht so. Wie hätte eine grundlegende Reform der Verfassung denn aussehen sollen? Das Grundgesetz ist die beste, die wir je hatten. Was hätte verbessert werden können?
Blickpunkt: Ist es ein Makel, dass das Volk nie über das Grundgesetz abgestimmt hat, weder 1949 noch 1990?
Papier: Nein, auf seiner Grundlage hat das Volk sich nicht zuletzt in einer Vielzahl von Wahlen zum Deutschen Bundestag auch zu dieser Verfassung bekannt. Daher kann man dem Grundgesetz sicher keine mangelnde Legitimation oder fehlende Akzeptanz vorhalten. Im Gegenteil: Das Grundgesetz ist ein zentraler Faktor der Identifikation des Volkes mit dem Staat geworden. Und darüber freue ich mich – gerade am 60. Geburtstag des Grundgesetzes.
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Interview Dr. Sönke Petersen
Erschienen am 12. Juni 2009