Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Birgit Svensson

Apathie im Zweistromland

Drei Jahre nach Beginn des Irak-Krieges
Bagdad. Drei Jahre nach dem Beginn des Irak-Krieges am 20. März 2003 ist das Land in einem Zustand, wie er schlimmer nicht sein könnte. Nicht eine Regierung bestimmt über den Alltag der 26 Millionen Einwohner an Euphrat und Tigris, sondern Terroristen, Aufständische, Milizen, Kriminelle und eine grausame Selbstjustiz. Es herrschen Anarchie und Gewalt.

Das Gegenteil von Demokratie ist Apathie", beschreibt Alexander Christof den derzeitigen Gemütszustand vieler Iraker und sorgt sich um seine Mitarbeiter, die inzwischen jegliche Hoffnung verloren hätten. Der Architekt ist einer der wenigen Deutschen, die noch humanitäre Projekte in Bagdad betreuen, wenn auch größtenteils ferngesteuert aus der jordanischen Hauptstadt Amman. Wie also ein Land aufbauen mit Menschen, die keinen Glauben an die Zukunft mehr haben? John Pace bringt die Gründe für diese Apathie auf den Punkt. Zwei Jahre lang war er Direktor der UN-Menschenrechtskommission für den Irak und die meiste Zeit im Land: "Wenn man unter Saddam auf Meinungs- und Gedankenfreiheit verzichtete, war man physisch mehr oder weniger ok. Jetzt nicht mehr. Nun erleben wir eine primitive, chaotische Situation, in der jeder jedem alles nur Erdenkliche zufügen kann."

Die Wahlen sollten die Demokratie bringen. Gleich drei Mal wurden die rund 14 Millionen Wahlberechtigten im vergangenen Jahr zur Abstimmung gerufen: im Januar, im Oktober und im Dezember. Die Wahlbeteiligung steigerte sich von Mal zu Mal, trotz terroristischer Bedrohungen, Fahrverbote und offensichtlicher Wahlbetrügereien. An den Parlamentswahlen im Dezember nahmen über 70 Prozent der Wahlberechtigten teil. Ein Traumergebnis für so manche westliche Demokratie. Doch der bekundete Wählerwillen, dass es durch die Abgabe der Stimme mit dem Land vorwärts gehen solle, wurde immer mehr enttäuscht. Von den drei Übergangsregierungen, die dem Irak seit dem Fall Saddam Husseins beschert wurden, vermochte es keine, auch nur das Nötigste im Alltag der Bürger zu verbessern.

Bombenanschläge, Raub, Diebstahl und Entführungen haben inzwischen ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. Strom, Wasserversorgung, staatliche Dienstleistungen, Warenproduktion und Arbeitsplätze sind auf ein Minimum reduziert. In Bagdad werden die Müllberge immer höher, die Seitenstraßen verwandeln sich zu stehenden Gewässern, viele Häuser drohen gänzlich auseinander zu brechen. Und dies nicht etwa, weil Müllmänner, Wasserwerker oder Bauarbeiter für höhere Löhne streiken, sondern weil Ausgangssperren willkürlich verhängt werden, Bombenanschläge und Sabotageakte das ohnehin vielfach notdürftig Geflickte zum wiederholten Mal wieder zerstören oder der Vorarbeiter der Firma, der im Dienste der Kommune arbeitet, mit dem Tod bedroht wird, wenn er und seine Kollegen gewillt sind, weiterzumachen. "Sogar während des Embargos nach dem Kuwait-Krieg hatten wir mehr Strom als jetzt", sagt Adnan, der trotz der Bedrohung an einem Schaltkasten des Elektrizitätswerkes arbeitet und die durchgeschmorten Drähte auswechselt. "Wir wollen nicht Saddam wieder haben, aber die Zeiten."

Indes versuchen irakische Politiker, UN-Vertreter und amerikanische Botschaftsangehörige schon seit Wochen, eine Regierung zu zimmern, die vier Jahre halten und endlich Stabilität schaffen soll. Hermetisch abgeschirmt von der Öffentlichkeit, in der "Grünen Zone", geht es von einer Teerunde in die nächste. Was da in dem etwa 25 Quadratkilometer großen Regierungsviertel hinter Betonblöcken, Stacheldraht und Sandsäcken im einzelnen ausgekungelt und -geschachert wird, versteht außerhalb ohnehin niemand mehr.

Am 15. Dezember fanden Parlamentswahlen statt und noch immer ist keine neue Regierung in Sicht. Zunächst mussten zwei Monate lang Beschwerden über Wahlbetrug und Wahlfälschungen geprüft werden. Eine internationale Expertenkommission wurde eingesetzt. Am 11. Februar begann der offizielle Countdown zur Regierungsbildung, nachdem die endgültigen Wahlergebnisse bekannt gegeben wurden. Laut Verfassung hätte die Nationalversammlung 15 Tage später zum ersten Mal zusammentreten und einen Parlamentspräsidenten wählen müssen, nach weiteren 15 Tagen den Staatspräsidenten und seine beiden Stellvertreter. Gleichzeitig sollte der designierte Premierminister mit der Bildung einer Regierung beauftragt werden. Zwei Monate sind für das politische Prozedere veranschlagt.

Doch bis heute ist noch nichts dergleichen geschehen. Allein um die Einberufung der ersten Parlamentssitzung gab es unendliche Debatten. Hintergrund des für die Bevölkerung inzwischen unerträglichen Hin und Hers ist die Besetzung des Postens des Premierministers. Ihn soll laut Verfassung die größte Fraktion im Parlament stellen. Das ist mit 128 Sitzen die Schiitenallianz (UIA). Doch so einig, wie sich der Zusammenschluss verschiedener schiitischer Parteien nach außen darstellen mag, sind sich die Mitglieder nicht. Denn anders als noch bei den Wahlen im Januar vergangenen Jahres zum Übergangsparlament, verfügt die UIA über keine regierungsfähige Mehrheit mehr. Zehn Sitze fehlen. Eine Zweidrittelmehrheit, die nötig ist, um den Staatspräsidenten zu wählen und Änderungen an der Verfassung vorzunehmen, kommt mit dem Kurdenbündnis allein nicht mehr zustande. Doch auch die Kurden haben Stimmen verloren. Mit 53 Abgeordneten sind sie zwar zweitstärkste Fraktion im Parlament, können aber durch die beiden großen Sunnitenparteien überstimmt werden, die zusammen 55 Sitze erhielten. Während sich bei den Januar-Wahlen die meisten Sunniten dem Boykott-Aufruf ihrer Führung anschlossen, gingen sie im Dezember massenweise zur Stimmabgabe. Die Wahlbeteiligung bei den Sunniten war entsprechend höher als bei den anderen Volksgruppen Iraks. Man wollte demonstrieren, künftig am politischen Prozess teilhaben zu wollen. Genau dies jedoch ist jetzt das Problem für die UIA und das Kurdenbündnis, die acht Monate lang mit einer komfortablen Mehrheit alles bestimmen konnten.

Eine "Regierung der Einheit" soll nun die Lösung bringen. So jedenfalls wollen es der Übergangspräsident Tschalal Talabani, die Vertreter des Kurdenbündnisses und auch die US-Verwaltung. Alle politischen Kräfte sollen in die künftige Regierung mit eingebunden werden. Andere wollen dies nicht. Allen voran der jetzige Übergangspremier Ibrahim Dschafari, der im Ruf steht, den Irak polarisieren zu wollen und dem Einfluss Irans die Türen zu öffnen. So wurde über Wochen Adel Abdul Mahdi als künftiger Ministerpräsident gehandelt, ein auf Integration bedachter Wirtschaftswissenschaftler, der lange Zeit in Frankreich lebte. Wie Dschafari, gehört auch Mahdi der Schiiten- allianz an. Dschafari ist Vorsitzender der Dawa Partei, Mahdi ist Mitglied des Hohen Rates der Islamischen Revolution im Irak (SCIRI). Und um diese beiden Männer tobte der politische Machtkampf der vergangenen Wochen. Mit einer Stimme Mehrheit gewann Dschafari schließlich die Abstimmung innerhalb der UIA und wurde daraufhin offiziell als nächster Premier nominiert. Doch diese Stimme kam von dem jungen, radikalen Schiitenrebellen Moktada al-Sadr, dessen Anhänger die Racheaktionen der vergangenen Tage gegen die Sunniten zu verantworten haben.

Die Wogen schlagen seitdem hoch. Nicht nur die sunnitischen Parteien, auch die Kurden und die Irakische Liste unter dem Ex-Übergangspremier Ijad Allawi, die über 25 Sitze im Parlament verfügt, laufen Sturm gegen die Nominierung Dschafaris. Sie drohen, seine Wahl zu Fall zu bringen. Das Postenkarussell in Bagdad dreht sich weiter.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.