Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Tanjev Schultz

Stets im Einsatz für die Demokratie

Hildegard Hamm-Brücher lässt nicht locker

Vollblutpolitiker können nicht loslassen. Aber es ist nicht immer nur der Rausch der Macht, der sie lockt, oder die Sucht nach Aufmerksamkeit im Politzirkus, die sie in die Öffentlichkeit treibt. Es gibt auch den Vollblutpolitiker, der nichts anderes ist als ein besonders engagierter Bürger - ein citoyen, der das Gefühl der Verantwortung nicht los wird, etwas zum Gemeinwohl beizutragen, die Demokratie zu stützen und zu fördern.

Hildegard Hamm-Brücher ist eine Vollblutpolitikerin im besten Sinne. Im Mai wird die frühere Münchner Stadträtin, Bundestagsabgeordnete, Staatsministerin und Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten 85 Jahre alt. Doch auch wenn sich die "grande dame" der FDP, die ihrer Partei nach 54 Jahren aus Anlass der Möllemann-Affäre enttäuscht den Rücken kehrte, aus hohen Ämtern längst zurückgezogen hat - eingemischt hat sie sich stets, ihre politische Stimme und Wirkung hat sie nicht verloren.

Gegen das Vergessen

Einige ihrer anregenden Beiträge aus den vergangenen fünf Jahren versammelt nun ein Buch unter dem treffenden Titel "In guter Verfassung?", angelehnt an eine mahnende Sentenz des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seit ihrer Jugend im Umkreis der "Weißen Rose" möchte Hamm-Brücher "den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen". So stand es auf einem der Flugblätter, mit denen die Studentengruppe für ihren Widerstand gegen die Nationalsozialisten warb. Mit Verve wendet sich Hamm-Brücher gegen das Vergessen und streitet dafür, die demokratische Verfassung zu schützen und immer wieder neu mit Leben zu erfüllen.

Auch wenn sich Deutschland heute eines anständigen Grundgesetzes erfreut, ist das Land deshalb noch lange nicht in guter Verfassung. Politikverdrossenheit, Parteispendenaffären, Ämterpatronage, der Machtzuwachs der Exekutive auf Kosten des Parlaments - Hildegard Hamm-Brücher hadert mit dem Zustand der Republik. Doch die Texte gleiten dabei nicht ab in Selbstgerechtigkeit oder Verbitterung. Für Hamm-Brücher war und bleibt es eine Unterlassungssünde, die Wiedervereinigung nicht für ein Referendum über die Verfassung genutzt zu haben. Nun fordert sie eine unabhängige nationale Instanz, die Anstöße für mehr Bürgerpartizipation gibt und die deutsche Verfassungswirklichkeit kritisch unter die Lupe nimmt.

Gern zitiert die promovierte Chemikerin ihren politischen Ziehvater Theodor Heuss, der als erster Bundespräsident eindringlich mahnte, die Verfassung müsse "im Bewusstsein und in der Freude des Volkes lebendig" sein, sonst bleibe sie nur eine "Machtgeschichte von Parteienkämpfen". Hamm-Brücher hat immer wieder gegen die Machtversessenheit und die Neigung zur Selbstbedienungsmentalität in den Parteien angeschrieben. Ein Land, das Politikerinnen wie Hildegard Hamm-Brücher hervorbringt, ist zumindest in einer bemerkenswert wachen intellektuellen Verfassung.

Hildegard Hamm-Brücher: In guter Verfassung? Nachdenken über die Demokratie in Deutschland. Verlag C.H. Beck, München 2006; 208 S., 19,90 Euro

 

Tanjev Schultz ist Redakteur im Ressort Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung".


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