Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Sten Martenson

Die Spießer kehren zurück

Christian Schüle sieht alte Welten zusammenstürzen

Christian Schüle hat Deutschland vermessen, wie der Titel seiner "Abrechnungen" verspricht. Er hat es getan in der Manier eines gründlichen Analytikers mit der Fähigkeit zu intellektuellem Tiefgang und mit der Freude an ambitionierten Formulierungen, so wie es sich für einen Autor der Wochenzeitung "Die Zeit" gehört. Schüle unterzieht dabei seine Gleichaltrigen einer strengen Prüfung, denn sie sind die "Verantwortlichen von morgen". Er ahnt, nein, er weiß, dass sie gerade aus dem "Paradies" eines saturierten Konservatismus vertrieben werden. Er sieht um sich herum die ersten arbeitslosen Akademiker, die nur noch aus der Situation heraus und ohne Perspektive leben.

In mehreren Kapiteln mit geheimnisvollen Titeln ("Verortungen", "Achsen", "Wendekreise", "Pfade nach Utopia") versucht er sich als "Messtechniker", der auf andere Meinungen keinerlei Rücksicht nimmt. Als Mittdreißiger aus der Mittelschicht ist er in blühendem Wohlstand aufgewachsen. Lebensstil war der Konsumstil. Er sieht seine Altersklasse als "erste Kohorte, die von keinerlei ideologischen Scharmützeln in der Selbstentfaltung gestört und mit keinerlei existentiellem Leidensdruck belastet war".

Das konnte natürlich nicht immer so weiter gehen. Das Jahr 1985 war für Schüle das Jahr des Umbruchs, des Paradigmenwechsels: die Postmoderne begann - oder wie es der wortschöpferisch begabte Autor formuliert: Die Gattung der "ICHlinge" war geboren. Ihre Schlachtrufe wurden Selbstbestimmung und Selbstentfaltung. Ideen und Ideale waren passé. Die ICHlinge genügen sich selbst. Vier Schlüsselereignisse haben sie geprägt: Aids, Tschernobyl, Gorbatschow und der Globalismus.

Schüle beschreibt die Achsen der Berliner Republik, in der er und seine ICHlinge leben: den deutschen Totalboulevard, also den Beginn der Entertainmentepoche, und die Politik als Theater im Circus Maximus. Im Kapitel "Rückräume" nimmt er sich die jüngere deutsche Geschichte vor, die "Hypotheken der Erbengemeinschaft". Er konstatiert, dass die Deutschen unverändert Probleme mit Extravaganz, mit Stil, Stolz und vor allem Humor haben. Die Metapher "Wendekreise" beschreibt den Wandel vom postmodernen Idyll zum globalisierten Nichts. Da ist viel Spott über die "alte Republik" im Spiel, vor allem aber die Sorge über die brüchig gewordene Welt, in der liebgewordene Strukturen zerbröseln.

Der Autor ruft die Geburt einer "Neuen Bürgerlichkeit" aus, in der sich nun die ICHlinge zurechtfinden sollen. Sie bedeute kein neues Bürgertum, das es ohnehin nicht mehr gebe. Vielmehr sei es etwas Neues, das sich aus Altem bediene: Zeremonien und Rituale feierten fröhliche Urständ. Die Neuen Bürgerlichen würden wieder heiraten, die Spießer kehrten auf breiter Front zurück.

Endlich, auf den letzten 20 Seiten, geht der Autor auf die Frage ein, die den Leser schon lange umtreibt: Wohin führt das nun alles ? Was gedenken die ICHlinge, die sich keiner Tradition verpflichtet fühlen, künftig zu tun? Schüle möchte den Begriffen Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Demut zu einer neuen Blüte verhelfen. Auf diesem Begriffstrio allein gründe, was den ICHlingen am meisten zu fehle: Haltung. Schüle appelliert an die Seinen, mit Ideen und Projekten so etwas wie den Öffentlichen Geist, die res publica herzustellen, die Sache also , die alle angehe.

Auf diesem Weg scheut der Autor auch nicht vor hilflos klingenden Aufrufen zurück wie: "Wir müssen nur das Wollen wollen." Er steht zu dieser Form des Pathos. Er will es mit reichlich Pragmatismus verbinden und stimmt das hohe Lied der stoischen Weltanschauung an, die im Zeitalter der Globalisierung einen herausragenden Platz einnehmen könne.

Das alles ist über weite Strecken eine anregende Lektüre, auch wenn sich Schüle manchmal in ermüdenden Wiederholungen verliert. Und nicht nur das: so kreativ des Autors Sprache ist, so beginnt sich der Leser zu sperren, wenn sie rauschhafte Züge bekommt. Das macht zwar Spaß, aber die Gedanken büßen an Präzision ein. Trotzdem möchte der Rezensent potenziellen Buchinteressenten Schüles pathetische Schlussworte zurufen: "Lasset Hoffnung und Freude walten! Und bleibet gelassen."

 

Christian Schüle: Deutschlandvermessung . Abrechnungen eines Mittdreißigers. Piper Verlag, München 2006. 188 S., 16,90 Euro

 

Sten Martenson arbeitet als freier Journalist in Bad Honnef.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.