Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Karin Tomala

Der Traum vom Glück

Ein polnisches Mädchen erlebt in Warschau Gewalt und Vernichtung

Über die tragische deutsch-polnische Geschichte des Zweiten Weltkrieges wurde in beiden Ländern schon viel geschrieben. Doch die Erinnerung an diese dramatische Zeit ist noch nicht verblasst. So kommen immer neue, recht unterschiedliche Publikationen dazu. Erinnerungen und damit auch historische Erinnerungskulturen sind doch recht verschieden, genau wie das historische Bewusstsein über diese Zeit. Steht doch das eigene Leid, der Verlust von allem, was einem lieb geworden war, hier wie dort im Vordergrund. Es ist eine Art Abschottung nationaler Erinnerungskultur, da hier die Multiperspektivität fehlt.

Auf Initiative der "Gesellschaft für gute Nachbarschaft zu Polen" kam nun das Tagebuch von Wanda Przybylska in deutscher Sprache heraus. Sie war eine polnischen Schülerin, die während der deutschen Besetzung Warschaus ihre Empfindungen und Beobachtungen niedergeschrieben hatte. Es ist ein ungewöhnlicher Text, ein erschütterndes Dokument über eine grausame, menschenverachtende Zeit, in der Spuren von Menschlichkeit erhalten blieben.

Warschau war während des Zweiten Weltkrieges bis in seiner Existenz bedroht. Die Verfolgung der polnischen Intelligenz und die planmäßige Vernichtung der jüdischen Bevölkerung machten das Leben für jeden Einzelnen zum fast unkalkulierbaren Risiko. Das galt auch schon für Kinder und Jugendliche. Aus der brutalen Realität des Alltags flohen viele in eine Phantasie-Welt voller Wünsche und Hoffnungen.

Unbekümmert träumt das Mädchen vom Glück, freut sich über den schönen Himmel und über bunte Blumen; doch sie denkt gleichzeitig über das Schicksal des eigenen Landes und seiner Menschen nach. Dann wird wieder mit aller Wucht der Schmerz über den Krieg und das Leid der Polen hinausgeschrien, dass es einem die Seele zuschnürt. Wir erhalten Einblicke in das Gefühlsleben eines jungen Menschen, der unbeschwert und fröhlich und dann wieder voller Schmerz und Angst ist.

Glück, so können wir lesen, bedeutet für das Mädchen einfach "ein ehrliches Leben, Gesundheit, Freude an der Arbeit und Freundschaft zwischen den Menschen". Doch dann fragt es sich "Welcher Pole ist schon glücklich ohne sein Vaterland?" In ihren Zeilen beschreibt sie das gequälte Warschau mit seinen gehetzten und blutenden Menschen. Das Buch ist ein erschütterndes Zeugnis, es bewegt einen zu tiefst. Im ersten Moment ist man irritiert, dass ein Mädchen von so jungen Jahren mit der Urteilskraft eines Erwachsenen, wenn auch manchmal etwas naiv, die unterschiedlichen Situationen und Gefühle zu reflektieren vermag.

In geheimen Schulen wurde den jungen Menschen vermittelt, patriotisch über Gott und die Welt nachzudenken. Wanda hatte mit zwölf Jahren angefangen, Halt in ihrem "Heft", das sie wie ein Kleinod immer bei sich trug, zu suchen. Mit 14 Jahren stirbt sie während des Warschauer Aufstandes. Ein Granatsplitter hatte sie tödlich verletzt. 20 Jahre später entschloss sich ihre Mutter, dieses Tagebuch zu veröffentlichen.

Die erste polnische Ausgabe war 1969 erschienen, davor schon in Dänisch und Italienisch. 1981 wurde es ins Französische übersetzt, nun ins Deutsche. Eszeigt die polnische Perspektive des mörderischen Krieges. Hans Koschnik schreibt im Geleitwort sehr einfühlsam, dass auch solch ein Tagebuch eine wichtige Quelle zeitgeschichtlicher Realität sei. Unser Bewusstsein könne aufgeschlossen werden für das Geschehen jener Tage und die damit verbundenen physischen und psychischen Belastungen.

So lesen wir unter anderem in den Aufzeichnungen vom August 1942 solche außergewöhnlichen Reflexionen: "Nachts fielen wieder Bomben auf Warschau. Es brannte. Eine schreckliche Nacht. Ich wurde immer wieder wach und sah Juden ... Die Tränen sind versiegt, sie werden nie wieder zurückkehren. Vielleicht aber doch. Die Augen füllen sich mit neuen Tränen… und verschwinden wieder. Aber wohin verschwinden die Tränen der Trauer, der Bitterkeit oder der Freude? Nein, meine Tränen sind nicht verloren gegangen! Sie sind und werden für immer in diesem Heft bleiben!"

Dann beschreibt sie einen deutschen Soldaten, der "liebevoll ein kleines Mädchen auf dem Schoß seiner Mutter betrachtet". Sie dachte, "er ist doch auch nur ein Mensch". Während des Warschauer Aufstandes vertraut sie ihrem Tagebuch an, was alles Schreckliches in der Stadt geschehen war. So hält sie fest, dass Warschau furchtbar mit Blut befleckt, zerstört und verbrannt worden war.

Doch die Stadt durchlebte nicht nur tragische, sondern auch heldenhafte Zeiten. "Die Deutschen, die barbarischen Schinder", wie sie sie nennt, würden alle Polen, die ihnen in die Hände gefallen waren, auf schändliche Weise quälen. Voller Hoffnung und patriotischer Empathie lesen wir dann, wonach sie sich sehnt, dass Warschau weiter bestehen werde, weil die Menschen die Freiheit erkämpfen wollen, die die wichtigste Sache für jeden Menschen sei.

Im Geleitwort zur zweiten polnischen Ausgabe von 1985 wird mit Recht darauf verwiesen, dass dieses Mädchen auf beispiellose Art das Bild der jungen Generation des kämpfenden Polens zeige - einer Generation, die, bevor sie sich selbst begriffen hätte, ein Ausmaß an nationaler und allgemein menschlicher Tragödie erleben musste. Wenn man dieses kleine Buch gelesen hat, wird man besser verstehen, dass diese Zeit auch weiterhin einen bedeutenden Teil polnischer Erinnerungskultur ausmacht.

Obgleich man sich seit der großen politischen Wende danach gesehnt hatte, endlich mehr nach vorne schauen zu können, holt uns die Geschichte immer wieder ein; Publikationen, Dokumentationen, Ausstellungen, Foren zeugen davon. In Polen ist heute die Kriegserinnerung fast immer noch nur eine Selbstspiegelung. Man spricht vor allem über die eigenen Siege, Helden und Opfer. Doch nötig wäre kritisches Hinterfragen, um uns näher zu kommen, kann doch Geschichte nie ausschließlich nur für die eigene Nation konzipiert werden.

 

Wanda Przybylska: Ein Teil meines Herzens. Tagebuch 1942 - 1944. Mit einem Geleitwort von Hans Koschnik. Aus dem Polnischen von Lucie Ranft und Renate Weiß. Donat Verlag, Bremen 2006; 160 S.,12,80 Euro

 

Karin Tomala ist Professorin in Warschau, wo sie an der Akademie der Wissenschaften arbeitet.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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