Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Stefanie Hoffmeister

Eine heute fast vergessene Front der Emigration

Die Tagebücher Kurt Sterns rufen den Kampf gegen Hitler in Erinnerung

17 Jahre nach dem Tod des deutschen Schriftstellers und Antifaschisten Kurt Stern wurden jetzt seine Tagebücher veröffentlicht: Auf seiner Odyssee von Frankreich nach Mexiko trug er sie in einem kleinen Pappkoffer bei sich. Als die Tochter Nadine Steinitz die Aufzeichnungen 1994 nach dem Tod ihrer Mutter fand, waren die kleinen, mit Bleistift geschriebenen Texte fast nicht mehr zu lesen. Kurt Stern hatte sie in Französisch, oft hastig und unter dramatischen Umständen, festgehalten.

Es sind die stürmischen Jahre 1939 bis 1940. Das Inferno wird von Deutschland eingeläutet. Die ersten Sätze bei Stern: "Ca y est! Hitler greift Polen an." Er ahnt, dass der Krieg mit seinen verheerenden, bis in die Gegenwart reichenden Folgen beginnen wird.

Kurt und seine französische Frau Jean emigrierten früh aus Nazi-Deutschland nach Frankreich. Beide sind Linke und Kommunisten. Er, Spanienkämpfer gegen das Franco-Regime, will wieder an die Front und an der Seite Frankreichs gegen die Deutschen kämpfen. Eintragung am 5. 9. 1939: "Eine Stunde nach den Aufstehen erfahren wir, dass die deutschen Emigranten in verschiedene Konzentrationslager gehen müssen." Er kommt nach Colombes bei Paris und leidet sehr. Jean darf in Paris bleiben, arbeitet in einer Redaktion. Aber auch das wird sich bald ändern.

Tagebücher haben für Nachgeborene einen besonderen Reiz. Was damals geschah, Dramatik, Alltag, Situationen, die heute schwer nachvollziehbar sind, werden im Moment des Geschehens festgehalten. Da stehen natürlich Erkenntnisse ohne das Wissen von heute und muten daher manchmal merkwürdig an. 65 Jahre später ist es aber eine faszinierende Lektüre, aufregend zu lesen in ihrer Widersprüchlichkeit, Klugheit und Größe.

Erstaunlich, wie manche die Weltkatastrophe voraus ahnten, wie heftig sie stritten, aber auch wie sie irrten und sich Illusionen hingaben. Stern, damals Anfang 30, kann sich davor nicht bewahren. Immer wieder drehen sich Gespräche und Diskussionen um den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin. War es Taktik? War es Verrat? Stern hört, dass Sowjets und Deutsche untereinander Polen teilen wollen. Soviel Verbrechen kann er nicht glauben. Er irrt.

Zum Leiden der Gefangenen gehörte auch die totale Isolation. Umso mehr wuchern die Gerüchte. Das macht unsicher und schürt Ängste. Die Männer mit den unterschiedlichsten Auffassungen und Zielen, auch verkappte Nazis darunter, ringen miteinander in harten Diskussionen, nicht selten bis tief in die Nacht. "In jenen frühen Jahren", so Christa Wolf in ihrem aufschlussreichen und sehr persönlichen Vorwort, "lagen ja die Wurzeln für die späteren tiefgehenden Widersprüche, an denen wir dann teilhatten und die die einst Gleichgesinnten immer stärker polarisierten". Bei Stern heißt es: "Ist es ein Verdienst, niemals gezweifelt zu haben?"

Das Tagebuch erzählt auch von einer großen Liebe. Kennen gelernt haben sich Kurt und Jean als Studenten in Berlin. Ziemlich früh kehren sie nach 1945 dorthin zurück, schreiben und arbeiten zusammen. Einer der ersten antifaschistischen DEFA-Filme entstand aus ihrer Feder: "Stärker als die Nacht".

Im Tagebuch ist auch von Zärtlichkeit die Rede, immer dann, wenn Jean ins Lager kommt - das darf sie manchmal als Französin. Er erhält Briefe von ihr und schreibt selbst fast täglich. "Jean-Tag" nennt er den, an dem sie sich sehen, Trost geben können und Mut machen. Beide erleben Resignation und Verzweiflung. Allgemeine Depression im Lager sei zur Not erlaubt, "aber chronische Depression wird mit dem Tode bestraft".

Schmerzhaft erleben die Gefangenen den Hass der Franzosen, die in ihnen nur "die Deutschen" sehen. Das ist für die Emigranten schwer zu verkraften. Schließlich wollen viele von ihnen im Krieg gegen die Deutschen für die gemeinsame Freiheit kämpfen. Auch in solchen bitteren Emigrantenerfahrungen steckt ein Stück deutsch-französischer Geschichte.

Und immer wieder Sterns wunderbare Beschreibung von Landschaft und Licht, von Stimmungen zwischen Todesangst und Zukunftsträumen. In wenigen Sätzen vermag er Porträts von Menschen zu zeichnen, die längst vergessen sind und die einem jetzt wieder nahe kommen und dabei immer noch aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge verdeutlichen.

Als Fortsetzung der Tagebücher kann man die hinterlassenen Briefe von Emigrantenfreunden an Jean und Kurt Stern lesen, darunter Briefe von Anna Seghers, die sich sehr um die diversen Papiere und das notwenige Geld für die Überfahrt der Sterns nach Mexiko gekümmert hat. Mit dem letzten Schiff, das von Marseille auslief, landeten sie im Juni 1942 im rettenden Land. Das Buch wird vervollständigt mit einem Register und historischen Fotos.

 

Kurt Stern: Was wird mit uns geschehen? Tagebücher der Internierung. Aus dem Französischen von Lucienne Steinitz Aufbau-Verlag, Berlin 2006; 231 S., 18,90 Euro

 

Stefanie Hoffmeister arbeitet als freie Journalistin in Berlin.


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