Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Ursula Homann

Verfolgung, Not und ein gutes Ende

Aufzeichnungen einer holländischen Jüdin

Satz und Titel dieses Buches "Ich weiß, dieser Brief wird Dich nie erreichen" gelten für alle Briefe, die Mirjam Levie in den Jahren 1943 und 1944 in den besetzten Niederlanden und in Bergen-Belsen an ihren Verlobten Leo Bolle in Palästina geschrieben hat. Als dieser dann endlich die Gelegenheit hatte, die Briefe zu lesen, zeigte er wenig Interesse. Wie kam das?

Mirjam Levie, Jahrgang 1917, arbeitete während der Kriegszeit als Privatsekretärin beim Jüdischen Rat von Amsterdam. Wie ihr Verlobter (beide waren jüdischer Herkunft) gehörte sie der zionistischen Bewegung an. Am 10. Mai 1940 hatte die deutsche Wehrmacht Holland überfallen. Bald danach begannen die Judenverfolgungen. Im Februar 1941 wurden etwa 400 jüdische Männer nach Mauthausen verschleppt. Zurück kamen oft nur Sterbeurkunden, so dass dieses Lager bald nur noch "Mordhausen" hieß.

Im Vordergrund der Aufzeichnungen stehen die für die Juden verhängnisvollen Maßnahmen der Nazis. Im Dezember 1941 mussten sich Juden für die Arbeitslager in den Niederlanden melden; dann kamen die Anordnungen, den Judenstern zu tragen und aus den Provinzen nach Amsterdam und Westerbork umzuziehen. Im Juni 1942 folgten weitere "Judengesetze".

Wie in der Hölle

All dies wird detailliert beschrieben und kurz kommentiert mit Sätzen wie: "Die Deutschen benahmen sich wie wilde Tiere." Jüdische Kinder durften bald keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Die Lage spitzt sich zu. "Im Moment ist es wirklich, als wäre die Hölle ausgebrochen", schreibt Mirjam Levie. Hin und wieder werden auch Witze gemacht: Jemand wollte sich erhängen, aber der Strick riss. Er war von schlechter Qualität. Dann wollte er sich vergasen, aber das Gas war abgedreht. Schließlich lebte er nur noch von seinen Lebensmittelmarken, und der Selbstmord gelang ihm auf Anhieb.

Im Juli 1943 muss die Autorin nach Westerbork umziehen, im Januar 1944 wird sie nach Bergen-Belsen deportiert. Wo immer sie sich auch aufhält, stets findet sie eine Gelegenheit, alles genau und detailliert zu protokollieren. Da sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen unmittelbar und ungeschminkt in einer schlichten Sprache zu Papier bringt, wirken ihre Notizen authentisch; sie sind ein eindrucksvolles Zeugnis von Verfolgung, Elend und Leid.

Dann aber geschieht ein kleines Wunder. 1944 kann Mirjam Levie mit dem einzigen Gefangenenaustausch, der Bergen-Belsen je verließ, nach Palästina ausreisen. Aufgeregt notiert sie im Telegrammstil am 30. Juni 1944: "Ich sitze im Zug und kann es nicht fassen." Als der Bosporus überquert wird, heißt es: "Wir sind mitten in einem Märchen."

Sechs Wochen nach ihrer Ankunft in Palästina heiratet sie Leo Bolle. Über die Vergangenheit spricht sie mit ihm nur wenig, denn er steht dem Erzählten innerlich "sehr fern" und bleibt auch später, als gleichlautende Berichte aus anderen Ländern kommen, bei seiner distanzierten Haltung. So geraten die Briefe von Mirjam Levie, die sie mühsam mit in die Freiheit geschmuggelt hat, in Vergessenheit. Erst 2003 werden sie von einem niederländischen Historiker entdeckt und von der Verfasserin zum Druck freigegeben.

Wie aber ist es Mirjam Levie im "Gelobten Land" ergangen? Von 1948 bis 1981 arbeitete sie beim niederländischen Konsulat, der späteren Botschaft, während ihr Mann (er starb 1992) eine orthodoxe Mittelschule leitete. Das Ehepaar bekam drei Kinder. Der älteste Sohn wurde als Pilot während des Sechstagekrieges 1967 abgeschossen. Drei Jahre später fuhr die jüngste Tochter mit anderen Israelis in einem Jeep auf eine von Syrern gelegte Landmine.

Mirjam Bolle, mittlerweile über 85 Jahre alt, denkt an die Besatzungszeit in den Niederlanden "praktisch nicht mehr". Aber, was mit den Kindern geschehen ist, "lässt einen nie wieder los", bekennt sie.

 

Mirjam Bolle: "Ich weiß, dieser Brief wird Dich nie erreichen". Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen. Eichborn-Verlag, Berlin 2006; 205 S., 19,90 Euro


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