Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Daniela Weingärtner

Stell Dir vor, aus der Steckdose kommt kein Strom mehr

"Grünbuch" zur Energiepolitik vorgestellt
Energie ist für die meisten Bürger in Europa eine Selbstverständlichkeit. Der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine Anfang des Jahres machte auch einer breiten Öffentlichkeit klar, wie sensibel das Thema Energieversorgung ist. Vergangene Woche stellte die EU-Kommission in Brüssel ein Strategiepapier zur Energieversorgung, das so genannte "Grünbuch Energie", vor. Es soll eine Debatte darüber einleiten, wie die Europäische Union mit steigenden Preisen und einer zunehmenden Importabhängigkeit umgehen will.

EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso hat im Umgang mit den launischen Regierungschefs dazugelernt. Sie wollen in Energiefragen das letzte Wort behalten. Gleichzeitig soll die EU-Kommission dafür gerade stehen, dass in Europa die Lichter nicht ausgehen. Im Grünbuch über eine Strategie für nachhaltige, wettbewerbsstarke und sichere Energie wird der Schwarze Peter an die Mitgliedsstaaten zurück gespielt. Eine Liste von Fragen soll dafür sorgen, dass die nationalen Regierungen Farbe bekennen: Besteht Übereinstimmung, dass es einen Binnenmarkt für Energie geben soll? Mit welchen Gesetzen soll dieses Ziel erreicht werden? Wie stellt die EU sicher, dass alle Europäer Energie zu akzeptablen Preisen kaufen können und nicht Arbeitsplätze durch steigende Öl- und Gaspreise bedroht werden? Soll die EU klimafreundliche Energieformen fördern? Sollte Europa in Energiefragen außenpolitisch mit einer Stimme sprechen? Das sind nur einige der Fragen.

Nach Antworten sucht Europa nicht nur beim Thema Gas. Die Hälfte des europäischen Gasverbrauchs stammt heute aus drei Ländern: Russland, Norwegen und Algerien. Wenn sich nichts ändert, wird Europa in 25 Jahren 80 Prozent seines Gasbedarfs aus diesen Quellen beziehen. Deshalb wartet Barroso beim Thema Außenpolitik gar nicht erst auf grünes Licht. Noch vor dem Frühjahrsgipfel der Regierungschefs wird er Präsident Putin besuchen, um die Energiepartnerschaft mit Russland zu stärken. "Es ist auch im russischen Interesse, einen stabilen Markt und einen zuverlässigen Geschäftspartner zu haben", sagt Barroso selbstbewusst.

In ihrem Grünbuch lässt die Kommission keinen Zweifel daran, dass mit nationalen Eitelkeiten Schluss sein muss. Auf 1.000 Milliarden Euro wird der Investitionsbedarf für das europäische Energienetz in den nächsten 25 Jahren geschätzt, wenn es nicht zu ständigen Stromausfällen kommen soll. Mehr als zwei Drittel des Energiebedarfs wird die Europäische Union im Jahr 2030 importieren müssen. Die Wirtschaftsentwicklung in der EU, Exportchancen und Arbeitsplätze sind von einem Faktor abhängig, den jedes Land für sich kaum beeinflussen kann - den Preisen für Gas und Öl. In den vergangenen zwei Jahren haben sie sich fast verdoppelt. Die Nachrichtenlage sorgt dafür, dass Energiekommissar Piebalgs' Grünbuch zur Energiepolitik, das die Regierungschefs schon beim Herbstgipfel in Hampton Court in Auftrag gaben, zusätzliche Brisanz erhält. Der Streit zwischen Russland und der Ukraine um den Gaspreis zu Beginn dieses Jahres hat die Sorge um die Energiesicherheit viel stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch wie sie sichergestellt werden kann, ist unter den Regierungen umstritten. Die polnische Forderung nach einem "Energie-Beistandspakt" wird im Grünbuch aufgegriffen. Sollte ein Terroranschlag, eine Naturkatastrophe oder ein Streit um den Gaspreis zwischen Russland und Polen dazu führen, dass in Warschau die Lichter ausgehen, müssten die europäischen Partnerländer helfen. Das funktioniert aber nur, wenn alle Mitgliedsländer ihre Öl- und Gasreserven nach Brüssel melden und wenn Mindestreserven für alle vorgeschrieben werden. Deshalb wird im Grünbuch eine europäische Beobachtungsstelle für Energiereserven vorgeschlagen, die die Internationale Energieagentur ergänzen soll.

Der flämische Energieminister Kris Peeters möchte, dass die Europäische Kommission eine Oberaufsicht über den europäischen Energiemarkt bekommt. Auch Österreich denkt laut über einen EU-Energieregulator nach. Dass sich gerade kleinere Staaten dafür einsetzen, ist kein Zufall. Im derzeit wütenden Fusionsfieber der großen Energiekonzerne gehen sie leer aus. Nur die EU kann ihre Versorgungssicherheit garantieren. Die großen Länder dagegen bauen wieder verstärkt auf die eigenen Kräfte. Spaniens Regierungschef Zapatero führt den aus seiner Sicht berechtigten spanischen Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit ins Feld, wenn er den Kauf des spanischen Energiekonzerns Endesa durch die Düsseldorfer E.ON verhindern will. Und Frankreich versucht eine Verbindung zwischen Gas de France und dem französischen Unternehmen Suez einzufädeln, damit Suez nicht vom italienischen Konzern Enel geschluckt werden kann.

Barroso kommentiert die derzeitigen nationalen Töne im Fusionsstreit gelassen: "Die Regierungschefs haben sich in Hampton Court einstimmig für eine gemeinschaftliche Energiepolitik ausgesprochen. Jeder weiß, dass 25 Minimärkte für Energie global nichts ausrichten können." Derzeit sei der Konzentrationsprozess extrem. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres habe es im europäischen Energiesektor Fusionen im Wert von 117 Milliarden Dollar gegeben - fast so viel wie im ganzen Jahr 2005. Nur Brüssel könne dafür sorgen, dass ein funktionierender Energiebinnenmarkt mit fairen Wettbewerbsregeln in Europa entstehe.

Die in Europa heiß umstrittene Frage: "Kernernergie ja oder nein?" spart die Kommission in ihrem Grünbuch diplomatisch aus. Die neue Kommission will den Mitgliedstaaten die Entscheidung überlassen, wie sie ihren Energiemix gestalten wollen. "Geringer Co2-Ausstoß bedeutet für manche Windenergie, für andere moderne Kohlekraftwerke oder Kernkraft - wir sollten die unterschiedlichen Sichtweisen respektieren und keine Tabus errichten", meint der Kommissionspräsident.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.