Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 11 / 13.03.2006
Annette Sach /dpa

Rückwärtsgang für Europa

Besuch von Präsident Kaczynski

Zu seinem ersten Besuch in Deutschland war der polnische Präsident Lech Kaczynski am 8. und 9. März natürlich mit dem Flugzeug angereist - wegen der Schnelligkeit. In Sachen Europa möchte sich der Staatschef des östlichen Nachbarlandes Deutschlands aber offenbar lieber langsam bewegen und manchmal sogar kräftig auf die Bremse treten.

Bei einer europapolitischen Grundsatzrede in der Berliner Humboldt-Universität sprach sich Kaczynski offensiv für ein Europa der Nationalstaaten aus. Die Zeit für ein gemeinsames "quasi-staatliches Europa" aus den EU-Mitgliedern sei noch nicht gekommen, sagte der polnische Präsident. Die Europäische Union müsse ein "Bündnis nationaler Staaten" bleiben. Dementsprechend hält er bei EU-Abstimmungen am Prinzip der Einstimmigkeit fest. "Europa kann in vielen Dingen gemeinsame Positionen einnehmen, aber es braucht hier den Grundsatz der Einstimmigkeit", sagte er. Gleichzeitig machte er sich in seiner Rede mit dem Titel "Solidarisches Europa" für einen EU-Beitritt der Ukraine stark und auch einen Beitritt Weißrusslands kann sich Kaczynski durchaus vorstellen. Die Türkei spielt offenbar in seinen Vorstellungen von einer erweiterten EU keine Rolle. Er erwähnte das Land mit keinem Wort.

EU ist "künstliches Gebilde"

In einem Zeitungsinterview hatte sich der polnische Präsident kritisch über die Europäische Union geäußert. Er halte sie für ein "künstliches Gebilde" ohne eigene Öffentlichkeit. Die EU sei ein "Superstaat, der nationale Kompetenzen an sich zieht und zugleich ziemlich ratlos wirkt, weil er ein nur symbolisches Budget hat", erklärte er gegenüber der Tageszeitung "Die Welt". Er halte den möglichen Integrationsgrad der EU bereits für erreicht. Gleichzeitig räumte er aber ein, dass dies nicht bedeute, dass man nicht punktuell gemeinsame Vorhaben vereinbaren könnte.

Zu Beginn der Rede des polnischen Präsidenten vor den Studenten der war es zu heftigen Protesten gegen das polnische Staatsoberhaupt gekommen. Vertreter von Lesben- und Schwulenorganisationen warfen Kaczynski auf Transparenten und mit Sprechchören vor, dass Homosexuelle in Polen zunehmend unterdrückt würden. Kaczynski wiederholte seine kritische Einstellung zu Homosexualität. Er akzeptiere, dass es solche sexuellen Orientierungen gebe. Es sei für ihn jedoch unvorstellbar, dass Homo- und Heterosexuelle "gleichberechtigt" seien. Im Rahmen seines zweitägigen Staatsbesuches war Kaczynski auch mit Bundestagspräsident Norbert Lammert zusammengetroffen. Dieser hatte betont, dass das deutsche Parlament, unabhängig von politischen Mehrheitsverhältnissen, immer nicht nur an guten, sondern an freundschaftlichen Interessen zum nächsten Nachbarn Deutschlands im Osten interessiert sei. Auch Polen, so Kaczynski, sein an solchen Beziehungen interessiert, obwohl es Probleme gebe, bei denen beide nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern auch verschiedene Interessen hätten. Kaczynski zeigte sich bei seinem Gespräch mit dem Bundestagspräsidentenjedoch zuversichtlich, dass die Fragen langfristig gelöst werden könnten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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