11.3
Minderheitenvotum der PDS-Arbeits gruppe zum Endbericht der
Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“,
Ulla Lötzer, MdB, Prof. Dr. Jörg Huffschmid
(Sachverständiger)
11.3.1 Einleitung – Die
Herausforderung: Demokratische Politik gegen die neoliberale
Deformation der Globalisierung
Der Endbericht formuliert in der Einleitung
den konzeptionellen Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen
Problemfelder der Globalisierung diskutiert werden. Dabei wird die
mit der aktuellen Form der Globalisierung verbundene massive
Verschärfung von Ungleichheit, die steigenden Ungleichgewichte
in der Weltwirtschaft und die negativen sozialen und
ökologischen Folgen thematisiert. Insoweit stimmen wir dem
Bezugsrahmen des Endberichts zu. Was wir vermissen, ist eine
deutlichere Analyse der Interessen, Macht- und
Kräfteverhältnisse, die eine derartige Entwicklung
vorangetrieben haben. Es handelt sich in unserer Sicht nicht um
einen quasi-automatischen, durch die Technologie gestützten
Vorlauf der Ökonomie, bei dem die Politik aufholen und
gestaltet muss. Es handelt sich vielmehr um eine auch bisher schon
von der Politik gestützte und vorangetriebene Entwicklung im
Interesse der Kapitalgruppen, die auf internationale Expansion
angewiesen sind und diese ohne Rücksicht auf die sozialen und
ökologischen Kosten betreiben. Damit sind die potenziell
positiven Wirkungen internationaler Arbeitsteilung faktisch
für den größten Teil der Menschen nicht zum Tragen
gekommen, Globalisierung ist zur Spaltung der Welt deformiert
worden. Daher brauchen wir nicht nach einem ökonomischen
Vorlauf eine nachfolgende Politik, sondern eine andere
Wirtschaft und eine andere Politik. Im folgenden wollen wir
den konzeptionellen Bezugsrahmen für unser Minderheitsvotum
skizzieren:
Die „Globalisierung der
Weltwirtschaft“ ist Thema einer Enquete-Kommission geworden,
weil die Gesellschaft die Entwicklung zunehmend als Problem
empfunden hat. Dies ist spätestens seit den Demonstrationen
von Seattle anlässlich der Ministerratstagung der WTO Ende
1999 der Fall. Seitdem sehen immer mehr Menschen die Globalisierung
nicht mehr nur als unabwendbares – im wesentlichen durch den
technologischen Fortschritt verursachtes – Schicksal, an das
sich Menschen, Unternehmen und Länder bei Strafe des
Untergangs anpassen müssen. Sie erkennen, dass die
Globalisierung ein Resultat des Zusammenwirkens von
ökonomischen und politischen Entwicklungen ist, hinter denen
wirtschaftliche und politische Kräfte und Interessen stehen.
Die Ergebnisse sind für eine zunehmende Zahl von Menschen
weder sozial, noch ökologisch und politisch akzeptabel.
Der empirische Befund von dem wir ausgehen,
ist folgender: Im letzten Vierteljahrhundert haben Umfang und
insbesondere Tempo von grenzüberschreitenden Waren-,
Dienstleistungs- und ganz besonders Kapitalströmen enorm
zugenommen. Neue Technologien und insbesondere das Internet
versprechen grenzenlosen Fortschritt und neue demokratische
Partizipationsmöglichkeiten in einer informationell vernetzten
Wissensgesellschaft. Gleichzeitig ist die Spaltung der Welt in Arm
und Reich viel tiefer geworden, sowohl zwischen armen Entwicklungs-
und reichen Industrieländern als auch innerhalb der meisten
Länder. Die Zahl der Armen, die von weniger als einem
US-Dollar pro Tag leben, ist während des letzten Jahrzehnts
absolut gestiegen. Der durch die sozialen Sicherungssysteme
geschaffene gesellschaftliche Zusammenhalt wird in den
Industrieländern unter dem Druck von Sozialabbau und
Privatisierung brüchig; in vielen Entwicklungsländern
kommt nach der Zerstörung traditioneller Sozialstrukturen kein
neuer Zusammenhalt zustande. Wir sind Zeugen neuer Wellen und
Formen von Aggressivität, Gewaltbereitschaft und
Gewaltausbrüchen in zahlreichen Gesellschaften und sind mit
einer neuen Dimension
militärischer Interventionen im Namen globaler Werte
konfrontiert. Diese Entwicklungen fördern fundamentalistische
Tendenzen in allen Teilen der Welt und gefährden die
Demokratie.
Diese alarmierenden Tatsachen sind nicht in
erster Linie auf die Internationalisierung der Wirtschaft
zurückzuführen. Sie haben aber sehr viel mit der Art zu
tun, wie sie von den Industrieländern und deren führenden
Unternehmen durchgesetzt und gestaltet wurde. Die internationale
Ausdehnung der Wirtschaft enthält positive Perspektiven: Sie
kann Entwicklung durch Unterstützung und Kooperation
fördern, den Wohlstand aller Beteiligten durch Arbeits
teilung und Handel steigern, und durch wirtschaftliche Verflechtung
zum Frieden auf der Welt beitragen. Diese Perspektiven
verwirklichen sich allerdings nicht automatisch, sondern erfordern
bewusstes und kooperatives politisches Handeln. Die Dynamik der
Märkte, auf denen sich immer die Stärkeren zu Lasten der
Schwächeren durchsetzen, muss eingebettet werden in einen
nationalen und internationalen Rahmen der Zusammenarbeit und des
sozialen Ausgleiches, und dieser Rahmen kann nicht von den
Großen diktiert, sondern muss gemeinsam abgesteckt werden.
Tatsächlich ist wirtschaftliche Internationalisierung jedoch
nicht in diese, sondern in die entgegengesetzte Richtung politisch
forciert und gestaltet, sind ihre positiven Perspektiven hierdurch
bis zur Unkenntlichkeit deformiert worden. Internationale
Kooperation ist zunehmend durch Konkurrenz, die Politik einer
schrittweisen Stärkung ökonomischer Grundstrukturen in
den Entwicklungsländern durch radikale und rücksichtslose
Marktöffnung, demokratische politische Willensbildung durch
den Druck und das Diktat der großen internationalen
Finanz institutionen ausgehebelt worden. Auch in den
Industrie ländern hat stärkere
Internationalisierung die Versprechen nicht eingelöst, mit
deren Hilfe sie vorangetrieben worden war. Die Politik hat sich in
den letzten beiden Jahrzehnten weniger daran orientiert, den
Wohlstand, die Beschäftigung und die soziale Sicherheit der
Menschen zu sichern als daran, die internationale
Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Unternehmen –
insbesondere der großen Konzerne – auf Kosten der
Mehrheit zu steigern. Demokratie ist zunehmend unter den Druck der
großen Akteure auf den Finanzmärkten und der
transnationalen Konzerne geraten.
Diese Art, wie Internationalisierung als
„Wettlauf der Besessenen“ rücksichtslos politisch
vorangetrieben, organisiert und begleitet wird, sehen wir als den
Kern der gegenwärtigen Globalisierung an. Es handelt sich
dabei um ein von Anfang an politisches Projekt: Wirtschaftliche,
soziale und politische Entwicklungen sollen vor allem im Interesse
der Privatwirtschaft und besonders der großen international
tätigen Kapitalgruppen gestaltet werden. Dieses Projekt
richtet sich faktisch, zum Teil auch explizit, gegen einen
gesellschaftlichen Reformanspruch, der wirtschaftliche Strukturen
und Prozesse in eine demokratisch festgelegte Entwicklungsstrategie
einbinden, Bildung und Kultur, Gesundheit und die Grundversorgung
der Menschen als öffentliche Güter erhalten und dem
dominierenden Zugriff privater Profitstrategien entziehen will. Die
Globalisierung, mit der wir heute konfrontiert sind, ist eine
Strategie der neoliberalen Gegenreform. Globalisierungskritik
richtet sich nicht gegen Internationalisierung an sich, sondern
gegen ihre neoliberale Deformation.
Diese Sicht haben wir in der
Enquete-Kommission vertreten und in den Arbeitsgruppen
konkretisiert. Wir unterstützen die Empfehlungen der
Kommission, die auf eine Korrektur der von uns kritisierten
Fehlentwicklungen zielen. Unsere Position ist in den einzelnen
Arbeitsgruppen in unterschiedlichem Ausmaß akzeptiert und
gelegentlich von der Mehrheit der Kommission geteilt worden; in
diesen Fällen taucht sie auch im Hauptbericht auf. Dies gilt
besonders für das Mehrheitsvotum der Arbeitsgruppe
„Wissensgesellschaft“, das sich in der Analyse und den
Empfehlungen an der „Nachhaltigkeit“ von Wissen
orientiert. Das heißt, Wissen gilt als öffentliches Gut,
als Mittel zur Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit
und von sozialer Gerechtigkeit. Die Überwindung der
„Wissenskluft“ wird somit als Aufgabe formuliert.
In anderen Arbeitsgruppen sind wir bei
wesentlichen Fragen mit unseren Ansichten in der Minderheit
geblieben. Zu einigen davon stellen wir im folgenden unsere von der
Mehrheit abweichenden Ansichten und die daraus folgenden
Handlungsempfehlungen vor.
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