2.3
Herausforderungen globalisierter Finanzmärkte
2.3.1
Finanzkrisen12
2.3.1.1 Ursachen und
Ausbreitung von Finanzkrisen
Die Finanzkrisen der vergangenen Jahrzehnte
– in Form der Schuldenkrise der 80er Jahre, der
Währungskrisen in Europa zu Beginn der 90er Jahre, der
Finanzkrisen in Mexiko, Asien, Russland, Brasilien, Argentinien,
der Türkei oder in Form der schleichenden Krise in Japan
– können nicht auf eine Ursache zurückgeführt
werden. Bei genauem Hinsehen können nationale
Fehlentwicklungen identifiziert werden. Doch diese sind in Zeiten
der Globalisierung niemals unabhängig von der Entwicklung
globaler Parameter wie Preisen (Terms of Trade), Wechselkursen und
Zinsen. Auf diese Parameter können nationale Ökonomien,
und hier insbesondere die kleineren, keinen oder nur einen
höchst geringen Einfluss ausüben. Unter diesen
Bedingungen bleibt nur die Option der wirtschaftspolitischen
Anpassung und damit die Akzeptanz dessen, was Paul Krugman –
in Anlehnung an die Analyse von Mundell (1963) und Flemming (1962)
aus den 60er Jahren – „the Impossible Trinity“
genannt hat: Bei voller Konvertibilität der Währung und
freier Kapitalbewegung ist eine autonome Geld- und Fiskalpolitik
nur bei frei schwankenden Wechselkursen möglich (Krugman,
zitiert nach Oxfam Bretton Woods Projekt 2001: 9). Wenn aber der
Wechselkurs gegen eine Ab- bzw. Aufwertung stabilisiert werden soll
– wie es nicht zuletzt der IWF vielen Ländern der
Dritten Welt in der ersten Hälfte der 90er Jahre nahegelegt
hatte – muss die Geld- und Fiskalpolitik den externen
Bedingungen angepasst werden. Die nationalstaatliche
Wirtschaftspolitik verliert ihre Autonomie und mit ihr die
Regierung ihre Souveränität gegenüber den
Kapitalmärkten, es sei denn, die Kurse werden evtl. in
regionalen Währungssystemen gegen die erratischen Schwankungen
durch Koordination der Interventionen stabilisiert. Damit sind
viele Probleme verbunden, auf die im Kapitel
2.4über den „Reformbedarf auf den globalisierten
Finanzmärkten“ eingegangen wird.
Regierungen können nicht nur auf die Signale
der Kapitalmärkte reagieren, sondern sie müssen soziale
und po litische Belange der Bevölkerung ernst nehmen
– von langfristigen ökonomischen Projekten, die quer zu
den kurzfristigen Erwartungen von Kapitalanlegern liegen
können, ganz abgesehen. Der „Washington-Konsens“
der internationalen Finanzmarkt-Institutionen (IWF und Weltbank)
hat das Dilemma eindeutig zu Gunsten der Funktionserfordernisse von
Finanzmärkten gelöst. Die Unterwerfung unter das
Regelwerk des Washington-Konsens hat jedoch nicht dazu
geführt, dass Finanzkrisen hätten vermieden werden
können. Daher wird nun auch den sozialen und ökologischen
Belangen in einem „Post-Washington-Konsens“ Rechnung
getragen. Länder mit Liquiditätsproblemen sollen nicht
mehr nur – wie in der Vergangenheit – der
Konditionalität des „Washington-Konsens“
genügen, sondern sich die Konditionen „zu eigen“
machen („Owner ship“). Die Erfahrungen nach den
Finanzkrisen der 90er Jahre sind noch zu neu, als dass sie schon
heute an gemessen bewertet werden könnten. Allerdings
hat die Krise in Argentinien um die Jahreswende 2001/2002 gezeigt,
dass der Reformbedarf keineswegs befriedigt ist.
In der vorherrschenden neoklassischen
Interpretation werden Krisen durch makroökonomische
Umwertungen seitens der Finanzanleger ausgelöst. Sie
können durch langfristige Wachstumskräfte (z. B.
technischer Fortschritt), durch konjunkturelle
Nachfrageschwankungen und/oder durch weltwirtschaftliche
Veränderungen bedingt sein. In gewissen Grenzen sind sie
normal und unverzichtbar, um Ausmaß und Struktur der
Investitionen über den Markt zu lenken. Doch können sie
abrupt und erratisch sein und Anpassungen erzwingen, die sehr hohe
soziale Kosten verursachen.
Die Finanzkrisen der Entwicklungs- und
Schwellenländer seit Beginn der 90er Jahre, insbesondere die
Mexikokrise 1994/95 sowie die asiatische Finanzkrise 1997/98,
lassen allerdings – wie auch
die BIZ analysiert – ein besonderes Muster erkennen, das
durch den Begriff der „Umwertung“ unzureichend
beschrieben wird (BIZ 1998: 135). Ihren Ausgangspunkt nahmen diese
Krisen des Kapital angebots nämlich von der massenhaften
Liquidität, die in den großen Finanzzentren entstanden
war und auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten in
großem Umfang besonders attraktiv erscheinende Länder der
Dritten Welt geradezu mit Kapital überschwemmte. Positive
Bewertungen durch Rating-Agenturen, aber auch anderer offizieller
internationaler Organisationen gaben diesem Trend die
Rechtfertigung und deuteten die einzuschlagende Richtung von
Kapitalströmen an.
Sobald deutlich wurde, dass die
Absorptionsfähigkeit dieser Länder – wegen der
unzureichenden Größe der Märkte und wegen der
unzureichenden institutionellen Infrastruktur ihrer
Finanzmärkte – damit überfordert war, setzte eine
abrupte Umkehr der Kapitalflüsse ein, die durch eine
Spekulationswelle gegen die jeweilige Währung verstärkt
wurde. So wie die hohen Kapitalzuflüsse die jeweilige
Währung eines „Emerging Market“ tendenziell
aufwerteten (mit negativen Wirkungen auf die Leistungsbilanz), so
führte der abrupte Rückzug von Anlegern zu einer
Währungsabwertung von 50 Prozent und sogar mehr.
Die Schwäche der Finanzmärkte in
den betroffenen Ländern selbst kommt nicht als Ursache der
Krise in Betracht, weil diese Schwäche – z. B. in den
asiatischen Krisenländern – bereits seit Jahrzehnten
bestand, ohne dass sie zur Krise geführt hätte oder als
Krisenfaktor in den Analysen offizieller Institutionen aufgetaucht
wäre. Vielmehr hatten auf Druck internationaler Institutionen
die von der Finanzkrise betroffenen Länder den Kapitalverkehr
liberalisiert, ohne immer die notwendigen institutionellen
Vorkehrungen gegen negative externe Einflüsse zu treffen.
Obendrein lag es durchaus in manchen Fällen im Interesse von
Kapitalgebern und Investoren, regulierende Institutionen zu
umgehen, da die Regulierungskosten gesenkt, die
Regulierungsunterschiede ausgenutzt werden konnten.
Aber selbst auf informationseffizienten
Kapitalmärkten hängen die Entscheidungen der
Marktteilnehmer vonei nander ab, so dass es zu miteinander
korrelierten Markt reaktionen kommen kann, die sich im
Ergebnis selbst verstärken. Das populäre Abqualifizieren
derartiger Verhaltensmuster als „Herdentrieb“ verkennt
den rationalen Kern dessen, was John Maynard Keynes spöttisch
als verbreitetes Verhaltensmuster an Finanzmärkten
kennzeichnete: „Es ist besser, konventionell zu scheitern als
unkonventionell Recht zu behalten“ (Keynes, zitiert nach
Griffith-Jones 1998: 4).
Die Nutzung der Marktsignale zum Herausfinden
von Opportunitäten fördert also, so jedenfalls Keynes,
den Opportunismus. Mit dem Begriff „Herdenverhalten“
wird demnach der Tatbestand beschrieben, dass Teilnehmer an den
Finanzmärkten ihr Verhalten an dem anderer orientieren und auf
diese Weise massive Kapitalbewegungen in die gleiche Richtung
unterstützen. Dahinter steht eine einfache Erklärung: Der
Anlageerfolg von Investitionsentscheidungen wird nicht schon
dadurch erreicht, dass der Anleger auf Grund einer Analyse der
fundamentalen Faktoren die „richtige“ Währung oder
das „richtige“ Wertpapier ausgewählt hat, sondern
letztlich erst dadurch, dass auch andere Investoren ähnliche
Entscheidungen treffen. Denn nur dann entwickeln sich die Kurse in
die erwartete Richtung. Auf diese Weise schlägt individuell
rationales Verhalten von Finanzanlegern in kollektive
Irrationalität mit unabsehbaren ökonomischen und sozialen
– und manchmal auch politischen – Folgen um.
Rating vereinheitlicht in gewissem Umfang die
Einschätzung von Kreditnehmern am Markt. Verände
r un gen in der Einstufung (von Unternehmen oder von
Ländern) haben folglich auch marktübergreifende
Konsequenzen für Kreditkonditionen. Die Macht der
Rating-Agenturen über Marktprozesse kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Der so geförderte Herdentrieb kann
teilweise erklären, dass es im Vorfeld der Krisen in Mexiko
und Süd ostasien zu einem außerordentlich hohen
Zufluss von Kapital in diese Regionen gekommen ist. Er erklärt
auch zum Teil den nachfolgenden kollektiven Rückzug.
Genauso können Bewertungsverfahren von
Wertpapieren und Krediten Herdenverhalten auslösen, wenn
Anleger und Banken aufgrund der gleichen Signale in Länder
oder Projekte einsteigen und wieder aussteigen. Das Risiko, das die
Verfahren mindern sollen, wird auf diese Weise zum Teil erst
erzeugt. Das Rating, mit dem die Rationalität von
Anlageentscheidungen erhöht werden soll, wird dadurch zu einem
Teil des sozialen Mechanismus der „Self Fulfilling
Prophecy“, bringt also „unbeabsichtigte Wirkungen
absichtgeleiteten Handelns“ (Popper 1994) hervor.
Ähnliches gilt für die
Kreditvergabe an Entwicklungsländer: Wenn wichtige
Marktteil nehmer einem Land ein Darlehen gewähren, gilt
dies als ein Zeichen für die Solidität des
Schuldnerlandes. Das erhöht die Bereitschaft von anderen
Gläubigern, an dieses Land Kredite zu vergeben, oder von
Anlegern, Anleihen von offiziellen Institutionen und privaten
Unternehmen dieses Landes zu zeichnen.
Ein weiterer wichtiger Grund für die
Orientierung am Verhalten Anderer ist die ungleichmäßige
Verteilung verfügbarer Informationen. Angesichts der rasant
wachsenden Anlagealternativen in der Welt sind permanent
zusätzliche Informationen notwendig. In dieser Situation
stellt die Einschätzung anderer, eventuell besser informierter
Marktteilnehmer einen willkommenen Beitrag zur eigenen
Entscheidungsfindung dar.
Die Zahlungsfähigkeit von Kreditnehmern
eines Landes wird stets dann vorsichtiger eingeschätzt, wenn
sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit seiner
Unternehmen deutlich verschlechtert hat oder anzunehmen ist, dass
sie sich verschlechtern wird. Dafür können viele Faktoren
verantwortlich sein:
– Wichtige
Exportmärkte können wegbrechen, weil sich die Nachfrage
verschiebt oder billigere Anbieter auf dem Markt auftreten.
– Neben einem
massiven Preisrückgang bei wichtigen Exportgütern kann
auch der starke Preisanstieg bei notwendigen Einfuhrgütern die
Wettbewerbsfähigkeit treffen.
– Die Zahlungsfähigkeit
eines Landes kann ferner durch einen massiven Anstieg des
internationalen Zins niveaus beeinträchtigt werden.
(Dies war in Mexiko 1994 der Fall.)
In allen diesen Fällen verringern sich
die Nettoeinnahmen der Kreditnehmer, wodurch der Betrag, der
für den Schuldendienst zur Verfügung steht, kleiner wird.
Wenn dies in größerem Umfang geschieht,
überprüfen die Gläubiger ihre Kreditlinien und sind
mit Neuvergaben von Krediten vorsichtiger. Investoren
überprüfen unter diesen Umständen ihre Engagements
und ziehen, wenn sich alternative Anlagemöglichkeiten bieten,
ihr Kapital ab. In einigen Ländern (z. B. in Thailand) ist mit
hohen Zinsen Kapital angezogen worden, das lange Zeit half, ein
strukturelles Handelsbilanzdefizit zu finanzieren. Als deutlich
wurde, dass trotz Kapitalzuflüssen nach Thailand der
Wechselkurs des Baht durch Zentralbankinterventionen kaum zu halten
sein würde, setzte eine Bewegung aus der Währung ein.
Makroökonomische Schocks verursachen
aber erst dann einen massiven Abzug von Kapital, wenn
Erstens
die Gläubiger den Eindruck haben, dass die laufenden
Erträge der Kreditnehmer nicht mehr ausreichen, um
Zinszahlungen und Tilgungen auf Kredite und Anleihen leisten zu
können und
Zweitens die Renditen der
Investitionen und Anlagen sinken.
Sind die Investitionen langfristig gebunden
(Direktinvestitionen), ist eine Hemmschwelle gegen den abrupten
Abfluss errichtet. Bei kurzfristigen Anlagen und „offenen
Türen“ ohne Kapitalverkehrskontrollen kann allerdings
die Absetzbewegung plötzlich und heftig sein. Offene
Volkswirtschaften sind also der Volatilität der
(kurzfristigen) Kapitalbewegungen in starkem Maße ausgesetzt.
Diese ist um so stärker ausgeprägt, je ungünstiger
die Schuldenstruktur ist.
So hat die überwiegende Zahl der
Finanzkrisen in den 80er und 90er Jahren Länder mit einer
hohen kurzfristigen Auslandsverschuldung in fremder
Währung getroffen. Diese Kombination ist besonders
krisenanfällig, zumal dann, wenn die Überschuldung von
Banken und großen Unternehmen erst nach den ersten Anzeichen
der Krise – wie in Asien 1997 – offenbar wird oder wenn
Insiderwissen um eine bevorstehende Währungsabwertung (wie
offenbar in Brasilien 1998/1999) zur Flucht aus der Währung
beiträgt.
Um den Schuldendienst leisten zu können
und um die Attraktivität für Anleger
zurückzugewinnen, muss das Land in kurzer Zeit ausreichende
Deviseneinnahmen erzielen. Je höher das Niveau von
Fremdwährungsverbindlichkeiten ist, um so mehr hängt die
Zahlungsfähigkeit des Landes von der Sicherung seiner
internationalen Wettbewerbsfähigkeit ab.
Entwicklungsländer haben häufig eine einseitige
Exportstruktur (Monokulturen von „Cash Crops“ in der
Landwirtschaft, Extraktion weniger mineralischer Rohstoffe).
Außerdem benötigen sie für die Finanzierung ihrer
Leistungsbilanzdefizite konvertible, international stark gehandelte
Währungen.
Internationale Kapitalmobilität kann
für die grenzüberschreitende Übertragung von
Finanzkrisen sorgen („Contagion“ oder
Ansteckungseffekt). Denn die Abwertung des Kapitalbestands im
Krisenland kann Anleger
Erstens zu der Mutmaßung
führen, dass in Ländern mit ähnlicher
Wirtschaftsstruktur über kurz oder lang ähnlich
Krisensymptome Platz greifen. Es kommt dann auch dort zur
Kapitalflucht. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn
Zweitens infolge des
zusätzlichen Liquiditätsbedarfs im Krisenland Kapital aus
anderen Ländern abgezogen wird.
Drittens kann
der Abzug von Auslandskapital aus einem Krisenland für eine
Abwertung der Währung des Landes gegenüber seinen
Handelspartnern sorgen. Dadurch sinkt die Nachfrage nach
Gütern der Handelspartnerländer, und es kommt auch dort
zu einer Verschlechterung der Konjunkturlage. Wird dann
Viertens auf
politischem Wege versucht, die Abwertung durch eine restriktive
Geldpolitik mit hohen Zinsen zu verhindern, um das Vertrauen der
internationalen Anleger zurückzugewinnen, sorgen
Kapitalrückflüsse auch im Ausland für eine
kontraktiv wirkende Zinserhöhung.
12 Vgl. hierzu das Minderheitenvotum der
CDU/CSU-Fraktion in Kapitel
11.1.7.1.
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