*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

 zurück weiter  Kapiteldownload  Übersicht 


2.3          Herausforderungen globalisierter Finanzmärkte

2.3.1       Finanzkrisen12

2.3.1.1    Ursachen und Ausbreitung von Finanzkrisen

Die Finanzkrisen der vergangenen Jahrzehnte – in Form der Schuldenkrise der 80er Jahre, der Währungskrisen in Europa zu Beginn der 90er Jahre, der Finanzkrisen in Mexiko, Asien, Russland, Brasilien, Argentinien, der Türkei oder in Form der schleichenden Krise in Japan – können nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden. Bei genauem Hinsehen können nationale Fehlentwicklungen identifiziert werden. Doch diese sind in Zeiten der Globalisierung niemals unabhängig von der Entwicklung globaler Parameter wie Preisen (Terms of Trade), Wechselkursen und Zinsen. Auf diese Parameter können nationale Ökonomien, und hier insbesondere die kleineren, keinen oder nur einen höchst geringen Einfluss ausüben. Unter diesen Bedingungen bleibt nur die Option der wirtschaftspolitischen Anpassung und damit die Akzeptanz dessen, was Paul Krugman – in Anlehnung an die Analyse von Mundell (1963) und Flemming (1962) aus den 60er Jahren – „the Impossible Trinity“ genannt hat: Bei voller Konvertibilität der Währung und freier Kapitalbewegung ist eine autonome Geld- und Fiskalpolitik nur bei frei schwankenden Wechselkursen möglich (Krugman, zitiert nach Oxfam Bretton Woods Projekt 2001: 9). Wenn aber der Wechselkurs gegen eine Ab- bzw. Aufwertung stabilisiert werden soll – wie es nicht zuletzt der IWF vielen Ländern der Dritten Welt in der ersten Hälfte der 90er Jahre nahegelegt hatte – muss die Geld- und Fiskalpolitik den externen Bedingungen angepasst werden. Die nationalstaatliche Wirtschaftspolitik verliert ihre Autonomie und mit ihr die Regierung ihre Souveränität gegenüber den Kapitalmärkten, es sei denn, die Kurse werden evtl. in regionalen Währungssystemen gegen die erratischen Schwankungen durch Koordination der Interventionen stabilisiert. Damit sind viele Probleme verbunden, auf die im Kapitel 2.4über den „Reformbedarf auf den globalisierten Finanzmärkten“ eingegangen wird.

   Regierungen können nicht nur auf die Signale der Kapitalmärkte reagieren, sondern sie müssen soziale und po­ litische Belange der Bevölkerung ernst nehmen – von langfristigen ökonomischen Projekten, die quer zu den kurzfristigen Erwartungen von Kapitalanlegern liegen können, ganz abgesehen. Der „Washington-Konsens“ der internationalen Finanzmarkt-Institutionen (IWF und Weltbank) hat das Dilemma eindeutig zu Gunsten der Funktionserfordernisse von Finanzmärkten gelöst. Die Unterwerfung unter das Regelwerk des Washington-Konsens hat jedoch nicht dazu geführt, dass Finanzkrisen hätten vermieden werden können. Daher wird nun auch den sozialen und ökologischen Belangen in einem „Post-Washington-Konsens“ Rechnung getragen. Länder mit Liquiditätsproblemen sollen nicht mehr nur – wie in der Vergangenheit – der Konditionalität des „Washington-Konsens“ genügen, sondern sich die Konditionen „zu eigen“ machen („Owner­ ship“). Die Erfahrungen nach den Finanzkrisen der 90er Jahre sind noch zu neu, als dass sie schon heute an­ gemessen bewertet werden könnten. Allerdings hat die Krise in Argentinien um die Jahreswende 2001/2002 gezeigt, dass der Reformbedarf keineswegs befriedigt ist.

In der vorherrschenden neoklassischen Interpretation werden Krisen durch makroökonomische Umwertungen seitens der Finanzanleger ausgelöst. Sie können durch langfristige Wachstumskräfte (z. B. technischer Fortschritt), durch konjunkturelle Nachfrageschwankungen und/oder durch weltwirtschaftliche Veränderungen bedingt sein. In gewissen Grenzen sind sie normal und unverzichtbar, um Ausmaß und Struktur der Investitionen über den Markt zu lenken. Doch können sie abrupt und erratisch sein und Anpassungen erzwingen, die sehr hohe soziale Kosten verursachen.

Die Finanzkrisen der Entwicklungs- und Schwellenländer seit Beginn der 90er Jahre, insbesondere die Mexikokrise 1994/95 sowie die asiatische Finanzkrise 1997/98, lassen    allerdings – wie auch die BIZ analysiert – ein besonderes Muster erkennen, das durch den Begriff der „Umwertung“ unzureichend beschrieben wird (BIZ 1998: 135). Ihren Ausgangspunkt nahmen diese Krisen des Kapital­ angebots nämlich von der massenhaften Liquidität, die in den großen Finanzzentren entstanden war und auf der Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten in großem Umfang besonders attraktiv erscheinende Länder der Dritten Welt geradezu mit Kapital überschwemmte. Positive Bewertungen durch Rating-Agenturen, aber auch anderer offizieller internationaler Organisationen gaben diesem Trend die Rechtfertigung und deuteten die einzuschlagende Richtung von Kapitalströmen an.

Sobald deutlich wurde, dass die Absorptionsfähigkeit dieser Länder – wegen der unzureichenden Größe der Märkte und wegen der unzureichenden institutionellen Infrastruktur ihrer Finanzmärkte – damit überfordert war, setzte eine abrupte Umkehr der Kapitalflüsse ein, die durch eine Spekulationswelle gegen die jeweilige Währung verstärkt wurde. So wie die hohen Kapitalzuflüsse die jeweilige Währung eines „Emerging Market“ tendenziell aufwerteten (mit negativen Wirkungen auf die Leistungsbilanz), so führte der abrupte Rückzug von Anlegern zu einer Währungsabwertung von 50 Prozent und sogar mehr.

Die Schwäche der Finanzmärkte in den betroffenen Ländern selbst kommt nicht als Ursache der Krise in Betracht, weil diese Schwäche – z. B. in den asiatischen Krisenländern – bereits seit Jahrzehnten bestand, ohne dass sie zur Krise geführt hätte oder als Krisenfaktor in den Analysen offizieller Institutionen aufgetaucht wäre. Vielmehr hatten auf Druck internationaler Institutionen die von der Finanzkrise betroffenen Länder den Kapitalverkehr liberalisiert, ohne immer die notwendigen institutionellen Vorkehrungen gegen negative externe Einflüsse zu treffen. Obendrein lag es durchaus in manchen Fällen im Interesse von Kapitalgebern und Investoren, regulierende Institutionen zu umgehen, da die Regulierungskosten gesenkt, die Regulierungsunterschiede ausgenutzt werden konnten.

Aber selbst auf informationseffizienten Kapitalmärkten hängen die Entscheidungen der Marktteilnehmer vonei­ nander ab, so dass es zu miteinander korrelierten Markt­ reaktionen kommen kann, die sich im Ergebnis selbst verstärken. Das populäre Abqualifizieren derartiger Verhaltensmuster als „Herdentrieb“ verkennt den rationalen Kern dessen, was John Maynard Keynes spöttisch als verbreitetes Verhaltensmuster an Finanzmärkten kennzeichnete: „Es ist besser, konventionell zu scheitern als unkonventionell Recht zu behalten“ (Keynes, zitiert nach Griffith-Jones 1998: 4).

Die Nutzung der Marktsignale zum Herausfinden von Opportunitäten fördert also, so jedenfalls Keynes, den Opportunismus. Mit dem Begriff „Herdenverhalten“ wird demnach der Tatbestand beschrieben, dass Teilnehmer an den Finanzmärkten ihr Verhalten an dem anderer orientieren und auf diese Weise massive Kapitalbewegungen in die gleiche Richtung unterstützen. Dahinter steht eine einfache Erklärung: Der Anlageerfolg von Investitionsentscheidungen wird nicht schon dadurch erreicht, dass der Anleger auf Grund einer Analyse der fundamentalen Faktoren die „richtige“ Währung oder das „richtige“ Wertpapier ausgewählt hat, sondern letztlich erst dadurch, dass auch andere Investoren ähnliche Entscheidungen treffen. Denn nur dann entwickeln sich die Kurse in die erwartete Richtung. Auf diese Weise schlägt individuell rationales Verhalten von Finanzanlegern in kollektive Irrationalität mit unabsehbaren ökonomischen und sozialen – und manchmal auch politischen – Folgen um.

Rating vereinheitlicht in gewissem Umfang die Einschätzung von Kreditnehmern am Markt. Verände­ r­ un­ gen in der Einstufung (von Unternehmen oder von Ländern) haben folglich auch marktübergreifende Konsequenzen für Kreditkonditionen. Die Macht der Rating-Agenturen über Marktprozesse kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der so geförderte Herdentrieb kann teilweise erklären, dass es im Vorfeld der Krisen in Mexiko und Süd­ ostasien zu einem außerordentlich hohen Zufluss von Kapital in diese Regionen gekommen ist. Er erklärt auch zum Teil den nachfolgenden kollektiven Rückzug.

Genauso können Bewertungsverfahren von Wertpapieren und Krediten Herdenverhalten auslösen, wenn Anleger und Banken aufgrund der gleichen Signale in Länder oder Projekte einsteigen und wieder aussteigen. Das Risiko, das die Verfahren mindern sollen, wird auf diese Weise zum Teil erst erzeugt. Das Rating, mit dem die Rationalität von Anlageentscheidungen erhöht werden soll, wird dadurch zu einem Teil des sozialen Mechanismus der „Self Fulfilling Prophecy“, bringt also „unbeabsichtigte Wirkungen absichtgeleiteten Handelns“ (Popper 1994) hervor.

Ähnliches gilt für die Kreditvergabe an Entwicklungsländer: Wenn wichtige Marktteil­ nehmer einem Land ein Darlehen gewähren, gilt dies als ein Zeichen für die Solidität des Schuldnerlandes. Das erhöht die Bereitschaft von anderen Gläubigern, an dieses Land Kredite zu vergeben, oder von Anlegern, Anleihen von offiziellen Institutionen und privaten Unternehmen dieses Landes zu zeichnen.

Ein weiterer wichtiger Grund für die Orientierung am Verhalten Anderer ist die ungleichmäßige Verteilung verfügbarer Informationen. Angesichts der rasant wachsenden Anlagealternativen in der Welt sind permanent zusätzliche Informationen notwendig. In dieser Situation stellt die Einschätzung anderer, eventuell besser informierter Marktteilnehmer einen willkommenen Beitrag zur eigenen Entscheidungsfindung dar.

Die Zahlungsfähigkeit von Kreditnehmern eines Landes wird stets dann vorsichtiger eingeschätzt, wenn sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen deutlich verschlechtert hat oder anzunehmen ist, dass sie sich verschlechtern wird. Dafür können viele Faktoren verantwortlich sein:

–    Wichtige Exportmärkte können wegbrechen, weil sich die Nachfrage verschiebt oder billigere Anbieter auf dem Markt auftreten.

–    Neben einem massiven Preisrückgang bei wichtigen Exportgütern kann auch der starke Preisanstieg bei notwendigen Einfuhrgütern die Wettbewerbsfähigkeit treffen.

–       Die Zahlungsfähigkeit eines Landes kann ferner durch einen massiven Anstieg des internationalen Zins­ niveaus beeinträchtigt werden. (Dies war in Mexiko 1994 der Fall.)

In allen diesen Fällen verringern sich die Nettoeinnahmen der Kreditnehmer, wodurch der Betrag, der für den Schuldendienst zur Verfügung steht, kleiner wird. Wenn dies in größerem Umfang geschieht, überprüfen die Gläubiger ihre Kreditlinien und sind mit Neuvergaben von Krediten vorsichtiger. Investoren überprüfen unter diesen Umständen ihre Engagements und ziehen, wenn sich alternative Anlagemöglichkeiten bieten, ihr Kapital ab. In einigen Ländern (z. B. in Thailand) ist mit hohen Zinsen Kapital angezogen worden, das lange Zeit half, ein strukturelles Handelsbilanzdefizit zu finanzieren. Als deutlich wurde, dass trotz Kapitalzuflüssen nach Thailand der Wechselkurs des Baht durch Zentralbankinterventionen kaum zu halten sein würde, setzte eine Bewegung aus der Währung ein.

Makroökonomische Schocks verursachen aber erst dann einen massiven Abzug von Kapital, wenn

Erstens      die Gläubiger den Eindruck haben, dass die laufenden Erträge der Kreditnehmer nicht mehr ausreichen, um Zinszahlungen und Tilgungen auf Kredite und Anleihen leisten zu können und

Zweitens   die Renditen der Investitionen und Anlagen sinken.

Sind die Investitionen langfristig gebunden (Direktinvestitionen), ist eine Hemmschwelle gegen den abrupten Abfluss errichtet. Bei kurzfristigen Anlagen und „offenen Türen“ ohne Kapitalverkehrskontrollen kann allerdings die Absetzbewegung plötzlich und heftig sein. Offene Volkswirtschaften sind also der Volatilität der (kurzfristigen) Kapitalbewegungen in starkem Maße ausgesetzt. Diese ist um so stärker ausgeprägt, je ungünstiger die Schuldenstruktur ist.

So hat die überwiegende Zahl der Finanzkrisen in den 80er und 90er Jahren Länder mit einer hohen kurzfristigen Auslandsverschuldung in fremder Währung getroffen. Diese Kombination ist besonders krisenanfällig, zumal dann, wenn die Überschuldung von Banken und großen Unternehmen erst nach den ersten Anzeichen der Krise – wie in Asien 1997 – offenbar wird oder wenn Insiderwissen um eine bevorstehende Währungsabwertung (wie offenbar in Brasilien 1998/1999) zur Flucht aus der Währung beiträgt.

Um den Schuldendienst leisten zu können und um die Attraktivität für Anleger zurückzugewinnen, muss das Land in kurzer Zeit ausreichende Deviseneinnahmen erzielen. Je höher das Niveau von Fremdwährungsverbindlichkeiten ist, um so mehr hängt die Zahlungsfähigkeit des Landes von der Sicherung seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit ab. Entwicklungsländer haben häufig eine einseitige Exportstruktur (Monokulturen von „Cash Crops“ in der Landwirtschaft, Extraktion weniger mineralischer Rohstoffe). Außerdem benötigen sie für die Finanzierung ihrer Leistungsbilanzdefizite konvertible, international stark gehandelte Währungen.

Internationale Kapitalmobilität kann für die grenzüberschreitende Übertragung von Finanzkrisen sorgen („Contagion“ oder Ansteckungseffekt). Denn die Abwertung des Kapitalbestands im Krisenland kann Anleger

Erstens      zu der Mutmaßung führen, dass in Ländern mit ähnlicher Wirtschaftsstruktur über kurz oder lang ähnlich Krisensymptome Platz greifen. Es kommt dann auch dort zur Kapitalflucht. Dieser Effekt wird noch verstärkt, wenn

Zweitens   infolge des zusätzlichen Liquiditätsbedarfs im Krisenland Kapital aus anderen Ländern abgezogen wird.

Drittens    kann der Abzug von Auslandskapital aus einem Krisenland für eine Abwertung der Währung des Landes gegenüber seinen Handelspartnern sorgen. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Gütern der Handelspartnerländer, und es kommt auch dort zu einer Verschlechterung der Konjunkturlage. Wird dann

Viertens    auf politischem Wege versucht, die Abwertung durch eine restriktive Geldpolitik mit hohen Zinsen zu verhindern, um das Vertrauen der internationalen Anleger zurückzugewinnen, sorgen Kapitalrückflüsse auch im Ausland für eine kontraktiv wirkende Zinserhöhung.



12 Vgl. hierzu das Minderheitenvotum der CDU/CSU-Fraktion in Kapitel 11.1.7.1.

zurück zum Text



 zurück weiter  Top  Übersicht 


Volltextsuche


























































Kasten 2-2



































































































































































































Kasten 2-3