2.3.1.2 Soziale, ökonomische
und politische Kosten von Finanzkrisen
Nationale und vor allem internationale
Finanzkrisen sind mit großen volkswirtschaftlichen und
sozialen sowie politischen Kosten verbunden, die sich nur zum Teil
in Geldgrößen beziffern lassen. Das soziale Leben
verändert sich, auch wenn nach gewisser Zeit die Statistiken
anzeigen, dass die durch die Finanzkrise entstandene
„Delle“ bei Wachstum und Aktienkursen, bei
Beschäftigung und Einkommen der Bevölkerungen
aufgefüllt werden konnte. Daraus wird sehr häufig der
Schluss gezogen, dass trotz der negativen Wirkungen von
Finanzkrisen auf Beschäftigung, Wachstum und Verteilung
letztlich die Wohlfahrtseffekte der Integration in globale
Finanzmärkte positiv sind und bleiben. So argumentiert
beispielsweise die Weltbank. Richtig daran ist, dass die
jüngsten Finanzkrisen nicht alle Länder
gleichermaßen und auch nicht die Armen im Allgemeinen
getroffen haben. Es kann sogar sein, dass einige Schichten und
Sektoren der Armen einer Gesellschaft von einer Finanzkrise
profitieren (wenn beispielsweise die Nachfrage nach informell
erzeugten Agrarprodukten steigt), während andere darunter zu
leiden haben. Die Finanzkrisen differenzieren also zwischen
„arm“ und „reich“ und innerhalb der
„armen“ Sektoren nochmals.
Diese Polarisierung ist hauptverantwortlich
für die Expansion des informellen Sektors der jeweiligen
nationalen Ökonomie. Dieser umfasst in Lateinamerika
inzwischen an die 60 Prozent der erwerbsfähigen
Bevölkerung, in Afrika bis zu 90 Prozent und in Asien oder in
den Transformationsländern ebenfalls mehr als 50 Prozent der
Erwerbsbevölkerung.14 Diese überwältigende Bedeutung
der Informalität als Folge von Krisenprozessen der
„formellen“ Ökonomie verweist auf die
Notwendigkeit der Bereitstellung von Kredit für diesen Sektor,
also auf die Rolle, die Mikrofinanzierung für den informellen
Sektor spielt (vgl. Kapitel
2.3.3.3).
Eine unmittelbare
ökonomische Folge von „Umwertungen“ der
Kapitalanlagen von Kreditgebern ist der abrupte Abzug von Kapital
und eine nachfolgende Rationierung von Krediten, so dass Schuldner
nicht nur illiquide, sondern insolvent werden können. Es ist
dem IWF zu Recht vorgeworfen worden, mit seiner Restriktionspolitik
gegenüber verschuldeten Ländern dieser Krisen
verschärfenden Spirale – besonders im Verlauf der
Asienkrise – nicht entgegengewirkt und so das
destabilisierende Potenzial der Kapitalmärkte institutionell
gefördert zu haben.
Während der
Kapitalzufluss („private Nettokapitalströme“) in
die asiatischen Volkswirtschaften vor 1996 von 15 Mil
liarden US-Dollar (1992) auf mehr als 110 Mil liarden
US-Dollar (1996) zunahm, waren es 1997 nur noch knapp 20 Milliarden
US-Dollar, 1998 musste sogar ein Kapitalabfluss von 55 Milliarden
US-Dollar verzeichnet werden (Mathieson, Schinasi 2001: 43).
Dieser Trend hat
sich auch 1999 und 2000 fortgesetzt. Nach Angaben der BIZ (2001:
43) betrug der Abfluss „sonstiger Kapitalströme“
(das sind insb. Bankkredite) aus
aufstrebenden Volkswirtschaften aller Regionen 136 Mil
liarden US-Dollar. Dies wurde jedoch durch einen
Nettozufluss von Direkt- und Portfolioinvestitionen von insgesamt
169 Milliarden US-Dollar (über)kompensiert.
An der
plötzlichen und drastischen Umkehr des Kapitalflusses in die
fünf asiatischen Krisenländer waren die
Direktinvestitionen nicht beteiligt; sie stiegen 1999 um bis
zu 70 Prozent an (UNCTAD 2000: 7f.). Den massiven Abfluss
kurzfristigen Kapitals kann kein Land ohne ökonomische
Schwierigkeiten verkraften. Doch auch die Kons tanz der
Direktinvestitionsflüsse in die asiatischen Länder
nach der Krise ist ein nicht
nur positives Zeichen. Denn die Di
rektinvestitionen, die die Defizite der Schwellenländer
finanziert haben, bestanden zu einem beträchtlichen Teil
aus Beteiligungen an oder
Käufen von bestehenden Unternehmen (UNCTAD 2000: 8; Schief
2000). Der Arbeits platz effekt
war neutral oder eher negativ, und außerdem ist auf diese
Weise ein erheblicher Teil der jeweiligen nationalen
Produktionspotenziale in ausländisches Eigentum
übergegangen, was nicht zuletzt dadurch erleichtert wurde,
dass die Unternehmen in Folge der Krise einem erheblichen
Kurs-(Preis-)Verfall ausgesetzt waren und demnach
„billig“ gekauft werden konnten. Diese politisch nicht
unproblematische Entwicklung ist jedoch durch verbessertes Rating
der betreffenden Länder honoriert worden. Doch sind inzwischen
die guten Objekte für einen Verkauf weg, die „Kurszettel
der Börsen in den Schwellenländern (sind) weniger
umfangreich als früher“ (Reisen 2000), d. h. für
Direktinvestitionen reduziert sich der Markt, wenn nicht „auf
der grünen Wiese“ neue Anlagen errichtet werden –
doch dies geschieht nur in Ausnahmefällen, weil der innere
Markt infolge der Einbußen bei Einkommen und daher
Konsumausgaben geschrumpft ist. Sollten aus diesen Gründen die
Direktinvestitionen zurückgehen, wird sich die Kapitalbilanz
sofort verschlechtern. Die Finanzierung von Finanzlücken
würde dann teurer und in der Folge käme es zu einer die
Kredite noch mehr verteuernden Rückstufung in der Bonität
durch Rating-Agenturen.
Das große
Problem besteht darin, dass die Art und Weise der
Krisenüberwindung in den von der Finanzkrise der 90er Jahre
besonders betroffenen Schwellenländern neue
Instabilitäten hervorgebracht hat, die – sofern keine
neuen Regeln für die Weltfinanzordnung gefunden werden –
eine erneute harte Landung nicht ausschließen.
Erstens sind die sozialen
Folgen in den betroffenen Krisenländern insbesondere für
große Teile der ärmeren Schichten nachteilig.
Zweitens sinkt die (finanzielle bzw.
fiskalische) Kapazität der staatlichen Institutionen,
öffentliche Güter bereit zu stellen, denn im globalen
Steuerwett bewerb „nagen fiskalische
Termiten“16 (Tanzi
2000) an der Steuerbasis der National- und Wohlfahrtsstaaten.
Obendrein verlangt die hohe
Volatilität der Finanzanlagen ökonomische, soziale und
politische Anpassungsleistungen, die in manchen Fällen
kontraproduktiv sind, denn die Volatilität der Preise
(Warenpreise, Kurse, Zinsen) ist hoch und mit ihnen die Schwankung
der privaten Einkommen und der Staatseinnahmen.
Langfristig angelegte, perspektivische Politik wird erschwert. Der
in vielen Ländern erfolgte Rückgriff auf die Politik der
Privatisierung öffentlichen Eigentums führt zu der
Konsequenz, dass ehemals öffentliche Güter wie Bildung
und Gesundheit in private Güter verwandelt werden, die sich
nur noch bestimmte Teile der Bevölkerung leisten können
– wenn die Einkommensverteilung ungleich ist. Die
Privatisierung von staatlichen Sozialprogrammen setzt meist die
Annahme voraus, dass die weibliche Arbeitskraft in der
Versorgungsökonomie uneingeschränkt
„elastisch“ ist und Frauen die zunehmenden Bürden
von Versorgungsarbeit bewältigen können. Der Mangel an
öffentlichen Gütern führt dazu, dass Korruption
und Gewalt in extremen Fällen zu ihrer privaten Aneignung
eingesetzt werden und so die rechtsstaatlichen Strukturen
unterminiert werden. Frauen sind von diesen Tendenzen in der Regel
besonders betroffen.
Drittens folgt
hieraus, dass die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Kompetenz
gebremst wird, die eine Bedingung für die Gestaltung des
institutionellen Systems eines Landes ist, damit Krisen entweder
präventiv verhindert oder effi zient
„gemanaged“ werden können, wenn sie nicht zu
verhindern sind.
Viertens sind
die ethnischen und religiösen Konflikte, die in einigen
besonders von der Finanzkrise betroffenen Ländern
ausgelöst worden sind (Indonesien, Philippinen), ein weiterer
Hinweis auf die politische Explosivität, die nüchterne
Finanzbeziehungen besitzen können.
Fünftens und
last not least ist auf die geschlechtsspezifischen Dimensionen der
Betroffenheit von Finanzkrisen hinzuweisen. Die Strategien zur
Verbesserung der Lage der Frauen sind in den Krisen des vergangenen
Jahrzehnts zurückgeworfen worden. Haushalte, aber auch die
Einnahmen der von Finanzkrisen betroffenen Staaten werden
verstärkt von den Transfereinkommen
(„Remittances“) legaler und illegaler Arbeit von
Migrantinnen abhängig. Allein die globalen Überweisungen
von Migrantinnen an ihre Familien in den Herkunftsländern
betrugen 1998 über 70 Milliarden US-Dollar. In der
Zwischenzeit zählen in den Philippinen die
Devisenüberweisungen von im Ausland arbeitenden und lebenden
Frauen zu der drittgrößten Einnahmequelle des Landes
(OECD 2000g: 234). Auch in Bangladesh repräsentieren die
Auslandsüberweisungen in Höhe von 1,4 Milliarden
US-Dollar ungefähr ein Drittel der Gesamtdevisen. Nach der
Finanzkrise 1998 fing auch Thailand an, aktiv Frauen als
„Hausmädchen“ in den Mittleren Osten, die USA,
Deutschland, Australien und Großbritannien zu
„exportieren“ (International Human Rights Law Group
2001).
Ob im formalen Sektor als Krankenschwester beschäftigt oder in
der informellen Ökonomie, als Prostituierte in der
„Sex-Industrie“ oder als Arbeiterinnen in der
Unterhaltungsindustrie und der Tourismusbranche – diese
Frauen bilden eine neue globale „Service Class“, die
unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen viele der sozialen
Folgen der Finanzkrisen abfedert.
14 Vgl. hierzu im Einzelnen das Kapitel
4 „Arbeitsmärkte“.
16 Vito Tanzi hat acht „Fiscal Termites“
ausgemacht, die die Steuerbasis „annagen“: E-commerce,
elektronisches Geld, Verwendung administrierter Preise im
Intra-Unternehmenshandel, die Offshore-Zentren, die Verwendung von
Derivaten und die Aktivitäten von
Hedge Fonds, die Unfähigkeit, finanzielle Transfer zu
besteuern, die Zunahme von Aktivitäten im Ausland,
Einkäufe im Ausland (z. B. durch Touristen) (Tanzi
2001).
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