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Arbeitsmärkte1
4.1
Ausgangslage und Perspektiven
In der
öffentlichen Diskussion wird häufig die Grundsatzfrage
gestellt, ob und in welchem Umfang die gewachsene Wirtschafts- und
Gesellschaftskultur der „sozialen Marktwirtschaft“ in
Deutschland zu Gunsten eines globalisierungsangepassten neuen
Leitbildes einer reinen oder weitgehend deregulierten
Marktwirtschaft aufgegeben werden muss.2
Die bisherige
Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft ist vor allem durch eine
starke Industrieorientierung mit hohem Exportanteil sowie durch
hohe Löhne bei zugleich hoher Produktivität
gekennzeichnet. Typisch sind weiterhin eine eher korporatistische
Arbeitsverfassung und Sozialpartnerschaft und die
verhältnismäßig strenge Regulierung des
Arbeitsmarktes nicht zuletzt durch eine noch immer hohe Bedeutung
von Tarifverträgen. Allerdings nimmt die Tarifvertragsbindung
insbesondere in den östlichen Bundesländern ab. In
einigen Bereichen wurden auch Sozialstandards abgebaut. Die
tägliche Arbeitszeit ist vergleichsweise kurz; infolgedessen
sind Eigenarbeit weit verbreitet und persönliche
Dienstleistungen weniger entwickelt. Die sozialen Differenzierungen
sind –gemessen z.B. an den Verhältnissen in den
angelsächsischen Ländern – relativ gering, das
Niveau der sozialen Sicherung noch immer hoch. Als Schattenseiten
wird die relativ hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit
angesehen, die zunehmend einseitig die abhängig
Beschäftigten trifft. Dazu kommt eine im internationalen
Vergleich geringe Erwerbsquote und eine hohe strukturelle
Arbeitslosigkeit.
Gerade die
soziale Marktwirtschaft verfügt jedoch über spezifische
Produktivitätsreserven, die auch im globalisierten Wettbewerb
mit Erfolg genutzt werden können. Eine Gesellschaft, die auf
sozialen Ausgleich und Chancengleichheit achtet, kann letztlich ihr
Humankapital besser entwickeln als eine zwangsläufig zur
sozialen Segmentierung tendierende unregulierte
Marktgesellschaft.
Die
Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft muss
allerdings mit Blick auf die effizientere Nutzung des einheimischen
Arbeitskräftepotenzials verbessert, der Strukturwandel auf dem
Arbeitsmarkt flankierend begleitet und so das sozialstaatliche
Modell gesichert werden. Folgende Aufgaben stehen in einem inneren
Zusammenhang und können nur gemeinsam gelöst werden:
–
Verbesserung der makroökonomischen Steuerung der
Volkswirtschaft,
–
Beseitigung des Rückstaus an öffentlichen
Infrastrukturinvestitionen,
–
Stärkere Anstrengungen in der Bildungs- und
Qualifikationspolitik,
–
Verbindung von Flexibilität und Sicherheit der Arbeitswelt
einschließlich innovativer Formen der
Arbeitszeitverkürzung,
– Schaffung
neuer Beschäftigungschancen für die mutmaßlichen
Verlierer der Globalisierung,
–
Erhöhung der Frauenerwerbsquote
–
Erweiterung der auf nationalstaatlicher Ebene weitgehend
eingeschränkten arbeits- und sozialpolitischen
Handlungsfähigkeit des Staates
Eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik
ist insbesondere von den makroökonomischen und demografischen
Bedingungen in Deutschland abhängig, die im Folgenden kurz
skizziert werden. Projektionen des Arbeitsmarktes für die
nächsten Jahrzehnte sind zwar mit großen Unsicherheiten
behaftet und setzen eine Vielzahl von Annahmen voraus (Hof 2001:
106 ff., Prognos 1998). Trotz aller Unwägbarkeiten darf man
von folgenden Entwicklungen ausgehen:
Das Arbeitskräftepotenzial in
Deutschland wird wegen der Zuwanderung und der steigenden
Erwerbstätigkeit von Frauen wahrscheinlich noch ca. zehn Jahre
lang leicht zunehmen. In dieser Phase dürfte auch die Zahl der
Erwerbstätigen – von Konjunkturschwankungen abgesehen
– weiter leicht ansteigen. Auch künftig ist nicht mit
„beschäftigungslosem Wachstum“ zu rechnen.
Das derzeit noch hohe gesamtwirtschaftliche
Arbeitsplatzdefizit wird erst längerfristig abgebaut. In
diesem Jahrzehnt dürfte der Abbau der Arbeitslosigkeit –
sofern nicht wirksamer gegengesteuert wird – nur sehr langsam
vonstatten gehen, weil zwar die Zahl der Erwerbstätigen
steigt, aber auch das Erwerbspersonenpotenzial noch leicht zunimmt.
Erst anschließend, wenn das Erwerbspersonenpotenzial
zurückgeht, kann die Arbeitslosigkeit rascher abgebaut
werden.
In etwa zehn Jahren ist aus demografischen
Gründen mit einem deutlichen Rückgang des
Arbeitskräftepotenzials zu rechnen. Zuwanderung kann diesen
Trend zwar abmildern, aber nicht ausgleichen. Da der Wohlstand in
Deutschland aber eng verknüpft ist mit einem hohen
Beschäftigungsstand müssen dann noch stärker bis
dahin im Arbeitsleben unterrepräsentierte Frauen und
Ausländer ins Erwerbsleben einbezogen werden. Die Verknappung
des Arbeitskräftepotenzials wird trotzdem möglicherweise
als Wachstumsgrenze wirksam werden. Allein aus demografischen
Gründen wird sich Vollbeschäftigung allerdings nicht
automatisch einstellen, sondern nur dann, wenn es gelingt, die dann vorhandenen
Arbeitskräfte auf hohem Niveau zu qualifizieren. Wird dies
versäumt, dann droht empfindlicher Arbeitskräftemangel
bei gleichzeitig hoher struktureller Arbeitslosigkeit.
Daraus ergeben sich wichtige
Schlussfolgerungen:
Wenn das Wirtschaftsgeschehen allein den
Marktkräften überlassen wird, werden die Wachstumsraten
nicht reichen, um den hohen Sockel der Arbeitslosigkeit abzusenken.
Auch die demografische Entwicklung bringt in diesem Jahrzehnt keine
Entlastung. Deshalb ist eine an einem hohen
Beschäftigungsstand ausgerichtete Wirtschaftspolitik
unerlässlich. Dazu gehören eine stärker
beschäftigungsorientierte Makropolitik einschließlich
einer nachhaltigen Belebung der öffentlichen
Investitionstätigkeit, die Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes, die Verbesserung der aktiven Arbeitsmarktpolitik
insbesondere durch die Stärkung des (Weiter-)Bildungssektors
sowie die Umverteilung der Arbeit durch eine neu konzipierte
Politik der Arbeitszeitverkürzung. Auf keines dieser Elemente
sollte verzichtet werden.
Weil sich die Entwicklung wahrscheinlich in
zwei deutlich voneinander getrennten Phasen abspielen wird, kann es
in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik zu
Zielkonflikten kommen, die nicht leicht aufzulösen sind. Kurz-
und mittelfristig, so lange die bestehende Arbeitslosigkeit noch
nicht abgebaut ist, wäre es wenig sinnvoll, das
Arbeitskräftepotenzial zu erhöhen. Langfristig aber kommt
es umso mehr darauf an, das Arbeitskräftepotenzial so weit wie
möglich zu steigern. So wird es von besonderer Bedeutung sein,
arbeitsmarktpolitische Strategien zeitlich richtig zu terminieren,
so dass sie ihre Wirkung dann entfalten, wenn die Lage es erfordert
und nicht dann, wenn es kontraproduktiv wäre.
1 Vgl. hierzu auch das abweichende Minderheitenvotum von
der FDPFraktion in Kapitel
11.2.2.6.
2 In diesem Sinne plädiert, um eine zugespitzte
Position zu nennen, die Kommission für Zukunftsfragen der
Freistaaten Bayern und Sachsen (1996/97).
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