*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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   2.3.1.2    Soziale, ökonomische und politische Kosten von Finanzkrisen

Nationale und vor allem internationale Finanzkrisen sind mit großen volkswirtschaftlichen und sozialen sowie politischen Kosten verbunden, die sich nur zum Teil in Geldgrößen beziffern lassen. Das soziale Leben verändert sich, auch wenn nach gewisser Zeit die Statistiken anzeigen, dass die durch die Finanzkrise entstandene „Delle“ bei Wachstum und Aktienkursen, bei Beschäftigung und Einkommen der Bevölkerungen aufgefüllt werden konnte. Daraus wird sehr häufig der Schluss gezogen, dass trotz der negativen Wirkungen von Finanzkrisen auf Beschäftigung, Wachstum und Verteilung letztlich die Wohlfahrts­effekte der Integration in globale Finanzmärkte positiv sind und bleiben. So argumentiert beispielsweise die Weltbank. Richtig daran ist, dass die jüngsten Finanzkrisen nicht alle Länder gleichermaßen und auch nicht die Armen im Allgemeinen getroffen haben. Es kann sogar sein, dass einige Schichten und Sektoren der Armen einer Gesellschaft von einer Finanzkrise profitieren (wenn beispielsweise die Nachfrage nach informell erzeugten Agrarprodukten steigt), während andere darunter zu leiden haben. Die Finanzkrisen differenzieren also zwischen „arm“ und „reich“ und innerhalb der „armen“ Sektoren nochmals.

Diese Polarisierung ist hauptverantwortlich für die Expansion des informellen Sektors der jeweiligen nationalen Ökonomie. Dieser umfasst in Lateinamerika inzwischen an die 60 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, in Afrika bis zu 90 Prozent und in Asien oder in den Transformationsländern ebenfalls mehr als 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung.14 Diese überwältigende Bedeutung der Informalität als Folge von Krisenprozessen der „formellen“ Ökonomie verweist auf die Notwendigkeit der Bereitstellung von Kredit für diesen Sektor, also auf die Rolle, die Mikrofinanzierung für den informellen Sektor spielt (vgl. Kapitel 2.3.3.3).

   Eine unmittelbare ökonomische Folge von „Umwertungen“ der Kapitalanlagen von Kreditgebern ist der abrupte Abzug von Kapital und eine nachfolgende Rationierung von Krediten, so dass Schuldner nicht nur illiquide, sondern insolvent werden können. Es ist dem IWF zu Recht vorgeworfen worden, mit seiner Restriktionspolitik gegenüber verschuldeten Ländern dieser Krisen verschärfenden Spirale – besonders im Verlauf der Asienkrise – nicht entgegengewirkt und so das destabilisierende Potenzial der Kapitalmärkte institutionell gefördert zu haben.

Während der Kapitalzufluss („private Nettokapitalströme“) in die asiatischen Volkswirtschaften vor 1996 von 15 Mil­ ­ liarden US-Dollar (1992) auf mehr als 110 Mil­ ­ liarden US-Dollar (1996) zunahm, waren es 1997 nur noch knapp 20 Milliarden US-Dollar, 1998 musste sogar ein Kapitalabfluss von 55 Milliarden US-Dollar verzeichnet werden (Mathieson, Schinasi 2001: 43).

Dieser Trend hat sich auch 1999 und 2000 fortgesetzt. Nach Angaben der BIZ (2001: 43) betrug der Abfluss „sonstiger Kapitalströme“ (das sind insb. Bankkredite) aus aufstrebenden Volkswirtschaften aller Regionen 136 Mil­ ­ liarden US-Dollar. Dies wurde jedoch durch einen Nettozufluss von Direkt- und Portfolioinvestitionen von insgesamt 169 Milliarden US-Dollar (über)kompensiert.

An der plötzlichen und drastischen Umkehr des Kapitalflusses in die fünf asiatischen Krisenländer waren die Direktinvestitionen nicht beteiligt; sie stiegen 1999 um bis zu 70 Prozent an (UNCTAD 2000: 7f.). Den massiven Abfluss kurzfristigen Kapitals kann kein Land ohne ökonomische Schwierigkeiten verkraften. Doch auch die Kons­ tanz der Direktinvestitionsflüsse in die asiatischen Länder nach der Krise ist ein nicht nur positives Zeichen. Denn die Di­ ­ rektinvestitionen, die die Defizite der Schwellenländer finanziert haben, bestanden zu einem beträchtlichen Teil aus Beteiligungen an oder Käufen von bestehenden Unternehmen (UNCTAD 2000: 8; Schief 2000). Der Arbeits­ platz­ ­ ­ effekt war neutral oder eher negativ, und außerdem ist auf diese Weise ein erheblicher Teil der jeweiligen nationalen Produktionspotenziale in ausländisches Eigentum übergegangen, was nicht zuletzt dadurch erleichtert wurde, dass die Unternehmen in Folge der Krise einem erheblichen Kurs-(Preis-)Verfall ausgesetzt waren und demnach „billig“ gekauft werden konnten. Diese politisch nicht unproblematische Entwicklung ist jedoch durch verbessertes Rating der betreffenden Länder honoriert worden. Doch sind inzwischen die guten Objekte für einen Verkauf weg, die „Kurszettel der Börsen in den Schwellenländern (sind) weniger umfangreich als früher“ (Reisen 2000), d. h. für Direktinvestitionen reduziert sich der Markt, wenn nicht „auf der grünen Wiese“ neue Anlagen errichtet werden – doch dies geschieht nur in Ausnahmefällen, weil der innere Markt infolge der Einbußen bei Einkommen und daher Konsumausgaben geschrumpft ist. Sollten aus diesen Gründen die Direktinvestitionen zurückgehen, wird sich die Kapitalbilanz sofort verschlechtern. Die Finanzierung von Finanzlücken würde dann teurer und in der Folge käme es zu einer die Kredite noch mehr verteuernden Rückstufung in der Bonität durch Rating-Agenturen.

Das große Problem besteht darin, dass die Art und Weise der Krisenüberwindung in den von der Finanzkrise der 90er Jahre besonders betroffenen Schwellenländern neue Instabilitäten hervorgebracht hat, die – sofern keine neuen Regeln für die Weltfinanzordnung gefunden werden – eine erneute harte Landung nicht ausschließen.

Erstens      sind die sozialen Folgen in den betroffenen Krisenländern insbesondere für große Teile der ärmeren Schichten nachteilig.

Zweitens   sinkt die (finanzielle bzw. fiskalische) Kapazität der staatlichen Institutionen, öffentliche Güter bereit zu stellen, denn im globalen Steuerwett­ bewerb „nagen fiskalische Termiten“16 (Tanzi 2000) an der Steuerbasis der National- und Wohlfahrtsstaaten.

                      Obendrein verlangt die hohe Volatilität der Finanzanlagen ökonomische, soziale und politische Anpassungsleistungen, die in manchen Fällen kontraproduktiv sind, denn die Volatilität der Preise (Warenpreise, Kurse, Zinsen) ist hoch und mit ihnen die Schwankung der privaten Einkommen und der Staatseinnahmen.

                   Langfristig angelegte, perspektivische Politik wird erschwert. Der in vielen Ländern erfolgte Rückgriff auf die Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums führt zu der Konsequenz, dass ehemals öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheit in private Güter verwandelt werden, die sich nur noch bestimmte Teile der Bevölkerung leisten können – wenn die Einkommensverteilung ungleich ist. Die Privatisierung von staatlichen Sozialprogrammen setzt meist die Annahme voraus, dass die weibliche Arbeitskraft in der Versorgungsökonomie uneingeschränkt „elastisch“ ist und Frauen die zunehmenden Bürden von Versorgungsarbeit bewältigen können. Der Mangel an öffentlichen Gütern führt dazu, dass Korruption und Gewalt in extremen Fällen zu ihrer privaten Aneignung eingesetzt werden und so die rechtsstaatlichen Strukturen unterminiert werden. Frauen sind von diesen Tendenzen in der Regel besonders betroffen.

Drittens    folgt hieraus, dass die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Kompetenz gebremst wird, die eine Bedingung für die Gestaltung des institutionellen Systems eines Landes ist, damit Krisen entweder präventiv verhindert oder effi­ zient „gemanaged“ werden können, wenn sie nicht zu verhindern sind.

Viertens    sind die ethnischen und religiösen Konflikte, die in einigen besonders von der Finanzkrise betroffenen Ländern ausgelöst worden sind (Indonesien, Philippinen), ein weiterer Hinweis auf die politische Explosivität, die nüchterne Finanzbeziehungen besitzen können.

Fünftens   und last not least ist auf die geschlechtsspezifischen Dimensionen der Betroffenheit von Finanzkrisen hinzuweisen. Die Strategien zur Verbesserung der Lage der Frauen sind in den Krisen des vergangenen Jahrzehnts zurückgeworfen worden. Haushalte, aber auch die Einnahmen der von Finanzkrisen betroffenen Staaten werden verstärkt von den Transfereinkommen („Remittances“) legaler und illegaler Arbeit von Migrantinnen abhängig. Allein die globalen Überweisungen von Migrantinnen an ihre Familien in den Herkunftsländern betrugen 1998 über 70 Milliarden US-Dollar. In der Zwischenzeit zählen in den Philippinen die Devisenüberweisungen von im Ausland arbeitenden und lebenden Frauen zu der drittgrößten Einnahmequelle des Landes (OECD 2000g: 234). Auch in Bangladesh repräsentieren die Auslandsüberweisungen in Höhe von 1,4 Milliarden US-Dollar ungefähr ein Drittel der Gesamtdevisen. Nach der Finanzkrise 1998 fing auch Thailand an, aktiv Frauen als „Hausmädchen“ in den Mittleren Osten, die USA, Deutschland, Australien und Großbritannien zu „exportieren“ (International Human Rights Law Group 2001).

                   Ob im formalen Sektor als Krankenschwester beschäftigt oder in der informellen Ökonomie, als Prostituierte in der „Sex-Industrie“ oder als Arbeiterinnen in der Unterhaltungsindustrie und der Tourismusbranche – diese Frauen bilden eine neue globale „Service Class“, die unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen viele der sozialen Folgen der Finanzkrisen abfedert.



14 Vgl. hierzu im Einzelnen das Kapitel 4 „Arbeitsmärkte“.

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16 Vito Tanzi hat acht „Fiscal Termites“ ausgemacht, die die Steuerbasis „annagen“: E-commerce, elektronisches Geld, Verwendung administrierter Preise im Intra-Unternehmenshandel, die Offshore-Zentren, die Verwendung von Derivaten und die Aktivitäten von Hedge Fonds, die Unfähigkeit, finanzielle Transfer zu besteuern, die Zunahme von Aktivitäten im Ausland, Einkäufe im Ausland (z. B. durch Touristen) (Tanzi 2001).

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Abbildung 2-11